Das weiße Mädchen
aufstieß. Lea spürte, dass weiterer Widerstand sinnlos war. Seiner Kraft war sie nicht gewachsen.
Draußen ging eine Autotür.
»Lea?«, rief eine Stimme.
Lea bekam den Türrahmen zu fassen, als Kai sie eben hindurchschieben wollte, klammerte sich mit aller Kraft fest und trampelte mit den Füßen, um ein hörbares Geräusch zu machen.
Schritte knirschten auf dem Kiesweg des Vorgartens – langsam, suchend, zögerlich.
Schneller!,
flehte Lea im Geist.
Bitte! Beeil dich!
Die Haustür schwang auf, gerade als es Kai gelungen war, Lea über die Türschwelle in ihre Wohnung zu zerren. Nur für einen kurzen Moment sah sie das verdutzte Gesicht des Mannes, der in den Flur hereinspähte – doch der Anblick verlieh ihr eine ungeahnte Kraft, und auf einmal gelang es ihr, sich zur Seite zu verdrehen und für Sekunden Kais Hand von ihrem Mund zu reißen.
»Jörg! Hier!«
Jörg Hausmann reagierte sofort. Offenbar hatte er bereits mit ernsten Verwicklungen gerechnet, denn er zögerte keinen Augenblick, nachdem er die Situation erfasst hatte. Mit einem Schrei hechtete er auf die Wohnungstür zu, und schon rangen sie zu dritt. Lea spürte einen dumpfen Schlag im Rücken, dann plötzlich war sie frei, warf sich zur Seite und tauchte unter einer fliegenden Faust weg. Ein Körper stürzte an ihr vorbei, schlug zu Boden und riss den Garderobenständer mit sich, der neben der Tür gestanden hatte. Jemand stöhnte.
Leas Hand fand den Lichtschalter. Die Beleuchtung flammte auf, und sie sah Kai rücklings am Boden liegen. Er stützte sich soeben auf den Ellbogen hoch, hielt jedoch inne und presste mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand gegen die Rippen. Wütend blickte er zu Jörg Hausmann auf, der mit kalkweißem Gesicht über ihm stand.
»Das wird Folgen haben!«, sagte Kai gepresst. »Haus friedensbruch und eine geprellte Rippe … ich werde Sie verklagen!«
»Tun Sie, was Sie wollen«, gab Jörg zurück, dessen geballte Fäuste zitterten. »Hauptsache, Sie lassen Lea in Ruhe.«
»Jörg!« Lea huschte an seine Seite, ergriff dankbar seine Hand und bemerkte, dass sie kühl und schweißnass vor Aufregung war. Zweifellos hatte ihr Kollege noch nie im Leben die Fäuste gebrauchen müssen und war entsprechend entsetzt über sich selbst. Lea hätte ihn gern in die Arme genommen. Doch sie war entschlossen, Rudolf Zirner nicht entkommen zu lassen, und wusste, dass jede Sekunde zählte. »Ich muss Kais Onkel einholen. Er versucht sich gerade davonzumachen. Gib mir deine Wagenschlüssel! Bleib du hier und ruf die Polizei.«
Jörg starrte sie verwirrt an, während er den Autoschlüssel aus der Tasche zog. »Aber …«
»Keine Fragen jetzt!«, beharrte Lea und drückte energisch seinen Arm. »Bitte bleib hier!«
Und ohne einen Blick auf Kai, der noch immer am Boden lag, wandte sie sich um, ließ beide Männer zurück und rannte zur Haustür.
Sie wusste selbst nicht recht, was sie damit bezweckte, als sie zu Jörgs Wagen eilte, sich auf den Sitz warf und den Motor anließ. Sicher wäre es vernünftiger gewesen, gemeinsam mit Jörg auf die Polizei zu warten. Aber es würde bestimmt einige Zeit dauern, einem Polizeibeamten die verwickelte Sachlage begreiflich zu machen, zumal Kai vermutlich alle Register ziehen würde, um sie und Jörg als die wahren Verbrecher hinzustellen. Bis endlich eine Fahndung ausgegeben würde, wäre Rudolf Zirner längst über alle Berge.
Lea wusste nicht, welchen Weg der Flüchtige eingeschlagen hatte, entschied sich jedoch spontan für die Straße, die nach Groß Heide und letztlich über Lüchow nach Uelzen führte, vorbei am ehemaligen Hof der Herforths. Lea trat das Gaspedal durch, jede Geschwindigkeitsbegrenzung ignorierend. Ihr Herz schlug schneller, als sie erkannte, dass ihre Eingebung richtig gewesen war: Schon bald sah sie vor sich im Dunkeln die Rücklichter eines Wagens auftauchen.
Lea holte auf, bis sie das Heck des dunkelblauen BMW deutlich erkennen konnte. Er fuhr nur knapp siebzig, beschleunigte jedoch abrupt, als sie sich näherte. Offenbar hatte Zirner begriffen, dass er verfolgt wurde.
Und was jetzt?,
fragte sie sich.
Vorpreschen, überholen und quer stellen wie bei einer Verfolgungsjagd im Film?
Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatte sie keinen Plan gefasst, sie war lediglich entschlossen gewesen, Zirner nicht entkommen zu lassen. Es kümmerte sie nicht, dasser siebzig Jahre alt und bei schwacher Gesundheit war – zu deutlich stand ihr das Bild des Schädels vor Augen,
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