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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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sie ihn nicht lieben konnte, wie er sie liebte, er wusste, dass er für sie nur ein Sonderling war, dessen Gesellschaft sie amüsierte. Doch das war ihm gleichgültig gewesen, solange er nur in ihrer Nähe sein, ihre Stimme hören, ihr Gesicht betrachten und den erregenden Duftihrer Fremdheit atmen durfte. Beide waren sie Ausgestoßene, und diese Erkenntnis hatte das Herz des Jungen mit Wärme erfüllt. Diese Wärme wollte er nicht missen. Es hätte bedeutet, dass er endgültig ganz allein auf der Welt wäre.
    »Christine!«, schrie er, so laut er konnte.
    Die Krähen in den Baumwipfeln stoben erschrocken auf und flogen davon. Als ihr raues Krächzen sich entfernt hatte, blieb der Junge reglos stehen und lauschte. Diesmal schien es ihm, als hörte er tatsächlich eine Antwort – oder war es nur das Echo seines eigenen Schreis?
    »Christine?« Diesmal flüsterte er.
    Nein, es war kein Echo. Er hörte Schreie – leise und gedämpft wie aus großer Ferne, doch er spürte, dass die Stimme keineswegs fern war, sondern unmittelbar in seiner Nähe. Es war die Stimme eines Mädchens. Sie schrie gellend, doch es klang wie eine Tonbandaufnahme, deren Lautstärke nahezu auf Null gestellt war.
    »Christine?« Der Junge war sich sicher, ihre Stimme erkannt zu haben. Sein Herz pochte schwer, während seine Beine unbeherrscht zu zittern begannen. Wo war sie? Wie war es möglich, dass er sie schreien hörte – gellend und schrill, aber dennoch wie aus einer anderen Welt?
    »Wo bist du?«
    Er tat ein paar Schritte nach links, um zu horchen, ob das Geräusch lauter wurde, dann nach rechts. Er umrundete das Haus, rannte hierhin und dorthin, zum Waldrand und wieder zurück, hielt inne, lauschte. Nein, die Stimme kam nicht aus der Ferne, sie wurde schwächer, je weiter sich der Junge von jenem Platz im Garten entfernte, wo er sie erstmals wahrgenommen hatte.
    »Wo bist du?«, schrie er.
    Sie ist tot,
sagte die Stimme in seinem Kopf zum dritten Mal.
Sie ist dort, wo die Toten wohnen.
    Schaudernd hielt der Junge inne. Wie unter einem Zwang setzten seine Füße sich in Bewegung und trugen ihn in den Garten zurück. Wieder hörte er die Schreie – leise und dennoch unerträglich grauenvoll, Schreie der äußersten Verzweiflung, der schrecklichsten Qual.
    »Christine   …«
    Die Lippen des Jungen bebten, als er zum letzten Mal ihren Namen aussprach. Seine Kehle wurde eng und in seinen Augen stiegen Tränen auf.
    Sie ist dort, wo die Toten wohnen.
    Langsam neigte er den Kopf. Sein Blick fiel auf den Boden vor seinen Füßen.
    Und er begriff.
    Die Toten wohnten unter der Erde. Die Stimme in seinem Kopf hatte die Wahrheit gesprochen. Was er zu hören glaubte, war nur ein dumpfes Echo aus jener Zwischenwelt, wo die Seelen der Verstorbenen umgingen.
    Christine war tot.
     
    Als der Junge das erkannte, beruhigte sich sein heftig schlagendes Herz. Es musste nicht länger wie ein gefangener Vogel in seiner Brust flattern; es musste überhaupt nicht mehr schlagen. Er wünschte, es würde auf der Stelle verstummen. Die Tränen in seinen Augen verschwanden, als wäre die Flüssigkeit verdunstet, und auch das Zittern seiner Beine hörte schlagartig auf, während sein Körper starr und kalt wurde.
    Es ist vorbei,
sagte die Stimme in seinem Kopf.
Nun hat alles ein Ende: die Furcht und die Freude, der Schmerz und die Liebe, der Zweifel und die Hoffnung.
    Und so war es. Der Junge spürte, dass er diesen Ort nun verlassen konnte. Es gab nichts mehr, das ihn zurückhielt. Er konnte nach Hause gehen und sich auf sein Bett setzen, um für den Rest seines Lebens reglos zu verharren.Er brauchte nicht mehr zu sprechen, nicht mehr zu essen, nicht mehr zu trinken. Er brauchte nur darauf zu warten, dass sein erstarrter Körper zerfiel und sein gepeinigter Geist endlich Ruhe fand. Es würde nicht lange dauern, dessen war er sicher.
    Langsam setzte er sich in Bewegung, mit tauben Gliedern, mechanisch wie eine Puppe. Gras rauschte um seine Füße, ohne dass er es spürte. Die Schreie entfernten sich, verklangen, wurden vom Wispern der Baumwipfel verschluckt.
    Ich komme zu dir, Christine,
versprach der Junge.
Schon bald.
    Und als er den Weg zum Dorf einschlug, verzog sich sein für alle Zeiten verstummter Mund zu einem entrückten Lächeln, das jeden geistig gesunden Menschen mit Grauen erfüllt hätte.

Lüneburg, Mai 2010
    Samstag
    »Mum, du hast verschlafen!«
    Benommen fuhr Lea Petersen von ihrem Kopfkissen hoch, als sie das Klopfen ihres Sohnes an der Tür

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