Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
1. Kapitel
T ess öffnete den Umschlag erst, als sie am Strand saß. Bis dahin hatte sie ihn glatt vergessen.
Heute Morgen war sie spät dran gewesen und auf dem Weg zur Arbeit fast mit dem Postboten zusammengestoßen.
»’tschuldigung, junge Frau.« Er hatte ihr den dicken, cremeweißen Umschlag gereicht, doch sie hatte kaum einen Blick darauf geworfen, bevor sie ihn in ihre Tasche schob und ihrer Tochter einen Abschiedskuss gab. Ginny brach zum College auf und Tess zum Wasserwerk. Tess arbeitete bei der Kundeninformation, einer schmeichelhaften Bezeichnung für die Beschwerdeannahme, denn wer brauchte schon Informationen über Wasser? (Dreh den Hahn auf, und es kommt heraus; noch besser ist es aber, es aus Flaschen zu trinken.)
Jetzt hatte sie Mittagspause, und wie so oft war sie ans Meer zur Pride Bay gefahren, die nur fünf Autominuten entfernt lag, um ihr Sandwich zu essen. Es war einer der ersten Frühlingstage und windig. Zwischen der Reihe pastellfarbener Umkleidehäuschen hinter ihr und den hoch aufgehäuften rosigen Kieseln vor ihr, aus denen dieser Teil von Chesil Beach, West Dorset, bestand, kam sie sich selbst vor wie der Belag in einem Sandwich. Obwohl ihr der Blick auf die Wellen verstellt war, war sie so wenigstens teilweise vor dem Wind geschützt. Sie brauchte erst um halb drei zurück zu sein. Gleitende Arbeitszeit ist doch eine wunderbare Erfindung, dachte sie.
Der Umschlag hatte es sich zwischen ihrem abgeschabten Schminktäschchen und ihrem Handy gemütlich gemacht. Sie zog ihn heraus. Las ihren Namen, Ms. Teresa Angel, und ihre Adresse in kräftigen, selbstbewussten Schreibmaschinenbuchstaben. Frankiert und abgestempelt in London. Hmmm. Sie schob den Daumen unter die Klebekante und riss den Umschlag auf. Ein einzelnes Blatt Papier. Sie zog es heraus. Es wirkte so dick und cremig, dass sie beinahe das Gefühl hatte, es essen zu können.
Sehr geehrte Ms. Angel, las sie. Wir wenden uns an Sie, um Ihnen mitzuteilen … bla, bla … in der Folge des Ablebens von Edward Westerman . Edward Westerman? Tess runzelte die Stirn. Kannte sie einen Edward Westerman? Nein. Hatte sie jemanden gekannt, der vor Kurzem verstorben war? Nein. Ob die Leute an die falsche Teresa Angel geschrieben hatten? Wohl kaum. Sie las weiter. Bezüglich des Nachlasses … bla, bla. Nachlass? Unter der Bedingung, dass … Moment mal. Sizilien? Mit freundlichen Grüßen und so weiter.
Hmmm. Tess las den Brief zu Ende und überflog ihn dann noch einmal. Sie sah einen Moment aufs Meer hinaus, und dann kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht träumte. Also las sie ihn ein weiteres Mal durch. Den Blick immer noch aufs Meer gerichtet, aß sie ihr Sandwich und spürte plötzlich eine Art nervöses Flattern wie von Mottenflügeln, gefolgt von einem Aufwallen – prickelnder Erregung … Das konnte doch nicht stimmen – oder?
Sie dachte an ihre Mutter. Was würde sie dazu sagen? Tess schüttelte den Kopf. Besser, sie dachte nicht darüber nach. Stattdessen dachte sie wie so oft leidenschaftlich, betrübt und sehnsüchtig an Robin, ihren verheirateten Freund. Nein. Da war jemandem ein Fehler unterlaufen. Ganz bestimmt handelte es sich um einen Irrtum.
Der Wind peitschte die Wellen zu grünlich grauen Brechern auf. Die Wolken zogen sich zusammen, und bald würde ihr trotz ihres schwarzen Blazers und des Wolltuchs, das sie um die Schultern geschlungen hatte, als sie den Wagen am Hafen stehen gelassen hatte, kalt werden. Sie sollte aufbrechen.
Wenn das stimmte … Wenn das kein Scherz war, dann … Sizilien. Tess hatte die Verbindung sofort gezogen. Aber was genau würde dann passieren? Wieder spürte sie diesen Adrenalinstoß. Herrgott! Sie steckte den Umschlag wieder in die Tasche und stand auf. Es war nicht einfach, in High Heels über den Strand zu gehen, aber Tess war daran gewöhnt.
Tess’ Mutter Flavia war Sizilianerin. Das war die Verbindung. Tess wusste, dass ihre Mutter ihr Heimatdorf mit dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte. Sie wusste ebenfalls, dass die Familie ihrer Mutter für jemanden gearbeitet hatte, der in einem großen Haus wohnte – ihre Mutter nannte es immer die »Große Villa« –, während ihre Familie selbst in einem kleinen Häuschen auf dem Anwesen lebte. Flavia Angel sprach selten von Sizilien, und sie war nie mit ihrer Tochter dorthin gefahren. Aber das hieß nicht, dass Tess nicht fasziniert von diesem Ort gewesen wäre. Und jetzt das. Sie ließ alles noch einmal Revue passieren. Edward
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