Das weiße Mädchen
schwarze Perücke vom Kopf zu ziehen. Ein Schopf kurzer blonder Haare kam zum Vorschein.
»Uwe?«, fragte Lea, die an seine Seite getreten war.
Er schien ihre Anwesenheit nicht zur Kenntnis zu nehmen, sondern stand reglos wie eine Statue, seine dunkel ummalten Augen noch immer auf Zirner gerichtet.
»Wer ist das?«, keuchte der alte Mann zwischen zwei Atemzügen.
»Ihr Sohn«, erwiderte Lea. »Oder vielmehr der Sohn Ihrer Frau. Erkennen Sie ihn nicht wieder?«
Nein,
antwortete sie sich selbst – schließlich waren sich die beiden seit Jahrzehnten nicht mehr begegnet. UweZirner jedoch schien seinen Ziehvater längst erkannt zu haben, denn er zeigte bei Leas Worten keine Regung.
»Du?« Rudolf Zirners Augen weiteten sich für Momente, dann schlossen sie sich wie vor tiefer Erschöpfung, wobei er langsam den Kopf schüttelte. »Du also …«, wiederholte er leise. »Ich hätte es wissen müssen. Im Leben warst du meine Schande, und jetzt wirst du mein Tod sein.«
Er atmete schwerer und presste erneut eine Hand auf sein Herz.
»Ich muss mich um ihn kümmern«, sagte Lea, an das reglose Profil des Mannes gewandt, der wie versteinert neben ihr stand. »Er hat einen Herzinfarkt. Der Notarzt ist unterwegs. Die Polizei habe ich auch gerufen. Ich bitte Sie zu bleiben, bis die Beamten kommen! Ihr Versteckspiel ist beendet, und Sie sollten die Chance ergreifen, Ihr Geheimnis zu lüften.«
Sie wartete nicht auf eine Reaktion, hoffte jedoch, dass ihre Worte ihn erreicht hatten. Dann trat sie zur geöffneten Tür des Wagens und ergriff Rudolf Zirners Hand. Sie war kühl und feucht, und Lea spürte den heftig gehenden Puls.
»Der Arzt wird gleich hier sein«, versprach sie und versuchte, ihre Stimme tröstlich klingen zu lassen.
Rudolf Zirner reagierte genauso wenig wie sein Sohn. Er saß mit geschlossenen Augen da, das Bewusstsein ganz und gar nach innen gewendet, einen stummen Kampf gegen den Tod kämpfend.
Wenn er doch nur etwas sagen würde
, dachte Lea, hin- und her gerissen zwischen Mitgefühl und Bitterkeit.
Nur ein einziges versöhnliches Wort zu dem Mann, den er sechzehn Jahre lang als seinen Sohn aufgezogen hat. Vielleicht ist es die letzte Gelegenheit.
Doch der alte Mann schwieg – und er schwieg noch, als in der Ferne die Sirene des Notarztwagens ertönte.
Epilog
Es war ein schöner, sonniger Tag im September desselben Jahres, als Lea durch Groß Heide fuhr und auf die Waldstraße nach Verchow abbog. Die Landschaft schien ihr seltsam verändert. Der Herbst nahte, und hier und dort hatten sich einige Laubbäume mattgolden verfärbt. Vielleicht, dachte sie, lag es auch nur daran, dass sie die Strecke bisher fast immer bei Dunkelheit gesehen hatte. Im hellen Tageslicht wirkte sie harmlos und durchschnittlich wie irgendeine gewöhnliche Landstraße.
»Schön hier«, meinte Jörg, der neben Lea saß, und blickte nach draußen.
»Ist es noch weit?«, fragte David von der Rückbank.
Lea schüttelte den Kopf. »Drei Kilometer vielleicht.« Sie blickte in den Rückspiegel, und ihr Blick traf den des Mädchens an Davids Seite. »Na? Aufgeregt?«
Maja zuckte die Achseln. Lea blickte wieder auf die Straße, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, lächelte jedoch in sich hinein. Sie hatte Maja erst vor kurzem kennengelernt, aber rasch begriffen, dass das Mädchen sich ungern eine Blöße gab. In Wahrheit klopfte ihr das Herz wahrscheinlich in der Kehle, auch wenn sie ihre Gefühle hinter demonstrativer Coolness verbarg.
Ich mag sie,
stellte Lea überrascht fest. Eigentlich war Maja ihr sehr fremd, und auch zu David schien sie mitihrer schwarzen Kleidung, dem üppigen silbernen Schmuck und dem dunklen Lidschatten nicht recht zu passen. Doch Lea hatte inzwischen gelernt, hinter die Fassade zu blicken, und trotz der eigenwilligen Aufmachung das nachdenkliche und im Grunde schüchterne junge Mädchen erkannt, das Maja in Wirklichkeit war. Sie gab sich große Mühe, erwachsen zu wirken. Ihr Gesicht jedoch, von einer kindlichen, fast puppenhaften Zartheit unter dem Schutzpanzer aus Schminke, offenbarte ihre Verletzlichkeit.
»So, da wären wir.«
Lea bremste und bog auf die Auffahrt ein, die zum ehemaligen Anwesen der Herforths führte. Diesmal stand das Gittertor offen, sodass sie auf den Hof fahren und neben der Scheune parken konnte. Dort stand bereits ein grauer Opel mit Hamburger Kennzeichen. Eine Frau um die dreißig schickte sich eben an, zum Haus hinüberzugehen, hielt jedoch inne, als sie die Besucher
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