Das weiße Mädchen
Stühle, während sich an der Wand verschiedene Schränke und eine Anrichte im Jugendstil aufreihten. Auch einen offenen Kamin gab es, neben dem ein Stapel Feuerholz lag.
»Setzen Sie sich doch!«, bat Frau Ilkic.
Alle nahmen Platz, während Uwe Berger zur Anrichte ging, um Gläser und Getränke zu holen, die er auf dem Tisch verteilte: eine seltsame Auswahl, bestehend aus Mineralwasser, verschiedenen Limonaden und sichtbar teurem Weißwein.
»Er hat wenig Erfahrung in solchen Dingen«, raunte Frau Ilkic den anderen zu. »Schließlich ist es sein erster Besuch.«
»Kein Problem!«, meinte Jörg und griff beherzt nach der Weinflasche. »Chardonnay zum Mittag – das ist doch mal etwas anderes!«
Lea, die noch fahren musste, hielt sich an Wasser, während David und Maja eine Cola öffneten. Uwe Berger, der erneut an den Tisch getreten waren, musterte reihum seine Gäste.
»Alles … gut?«, fragte er mit einer leicht krächzenden und zugleich seltsam kindlichen Stimme.
Alle nickten, und die Anwältin warf ihrem Schützling einen aufmunternden Blick zu. »Alles bestens, Uwe!«
»Ich muss etwas … holen gehen«, erwiderte er stockend und deutete zu einer Treppe, die vom Flur in das obere Stockwerk führte.
Frau Ilkic zuckte die Achseln. »Nur zu! Wir kommen schon klar.«
Er ging, und sie hörten, wie er die Treppe hinaufstieg und oben eine Tür öffnete.
»Es ist schwer für ihn«, erklärte Frau Ilkic den Besuchern. »Er spricht erst seit kurzem. Zuvor hat er seine Stimme zwanzig Jahre lang nicht benutzt. Er braucht noch viel Übung. Ich bin vor Schreck fast umgefallen, als er mich neulich zum ersten Mal mit ›Hallo‹ begrüßte. Schließlich kenne ich ihn seit Jahren und hatte mich vollkommen daran gewöhnt, dass er stumm ist.«
»Hätte ich mich nur früher entschließen können, Sie anzurufen!«, seufzte Lea. »Alles hätte sich viel rascher aufgeklärt. Aber ich glaubte, Sie würden bloß Immobilien verwalten …«
Frau Ilkic lachte. »Das tut mir leid. Aber ich hätte Ihnen kaum weiterhelfen können, denn ich wusste nicht viel über Uwe. Als ich damals seine Betreuung übernahm, war er ein Mann ohne Vergangenheit. Natürlich erfuhr ich einige Details von seinem früheren Betreuer in der Psychiatrie, aber die betrafen hauptsächlich seine Krankengeschichte. Ich wusste nur, dass er aus Verchow stammte, mit sechzehn Jahren in die Psychiatrie eingeliefert worden und dort bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr geblieben war, zuerst auf einer geschlossenen Station, später im Rahmen eines betreuten Wohnprojekts. Seinen Nachnamen änderte er, sobald er volljährig geworden war, und zu seinem Vater wünschte er keinen Kontakt. Ich habe Rudolf Zirner nie kennengelernt und auch nie Genaueres über Uwes Familie erfahren.«
»Wie hat er Ihnen denn seine Wünsche mitgeteilt, wenn er nicht sprechen konnte?«, warf Jörg ein.
»Er kann schreiben«, erwiderte die Anwältin. »Aller dings tut er es nicht gern. Dem geschriebenen Wort scheint er fast ebenso zu misstrauen wie dem gesprochenen. Ichhabe gehört, dass er selbst in seinen Comicbüchern wörtliche Rede vermeidet.«
»Sie kennen seine Comics gar nicht?«
»Ich habe einmal reingeschaut …
brrr.
« Frau Ilkic schüttelte sich. »Dieses Horrorzeug kann ich kaum ertragen. Sicher hätte ich es mir genauer angesehen, wenn ich geahnt hätte, dass er in diesen Geschichten von seiner Vergangenheit erzählt.«
»Wie kam es eigentlich, dass er Zeichner wurde?«, fragte Jörg.
»Nun ja, schon in der Psychiatrie hatte er die behandelnden Ärzte mit seinen Zeichnungen verblüfft«, erzählte Frau Ilkic. »Er weigerte sich zu sprechen, aber mittels der Zeichnungen antwortete er auf Fragen oder teilte in symbolischer Form mit, wie er sich fühlte. Ich habe einige dieser Bilder gesehen. Sie waren der Akte der Klinik beigefügt. Seltsames Zeug – verstörend, surreal, oft grausam und erschreckend. Viele Zeichnungen waren nur skizzenhaft, aber sie zeugten von erheblicher Begabung.«
Lea nickte. »Das hat er bestimmt geerbt. Uwes leiblicher Vater, Martin Herforth, war Kunstmaler. Auch seine Tochter Christine hatte ein bemerkenswertes Talent fürs Zeichnen.«
»So wird es wohl sein«, bestätigte Frau Ilkic. »Jeden falls war Zeichnen die einzige Tätigkeit, in der Uwe … vielleicht nicht glücklich, aber zumindest ganz er selbst war. Als er sich mit Anfang zwanzig ein eigenes Zimmer in der Lüneburger Innenstadt nahm, begann er seine Sozialhilfe
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