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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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meinen. Sie, unter deren Fenster wir immer vorbeigegangen waren, wenn wir mit dem Hund spazieren gingen, saß etwas abseits, und ich hätte gerne mit ihr gesprochen. Nicht über die Ungeheuerlichkeit, die er mit seinem Tod und den an sie gewandten Worten begangen hatte. Ich hätte einfach mit ihr sprechen wollen, über irgendwas, der Worte wegen. Ich habe es bis heute nicht getan.
    Wir fuhren mit dem Auto auf den Hügel, auf dem die Technische Universität liegt, hoch über der Stadt, der glasstahlglänzende Tempel der Wissenschaften, im Naherholungsgebiet zwischen grünen Wiesen mit einzelnen Bäumen und Kühen darauf. In einem Nebengebäude hatte mein lustiger Freund gearbeitet, im dritten Seitenflügel, Stockwerk C, Halle C7H5G, in einem Astronautenanzug im licht- und luftleeren Raum. Etwas unterhalb gab es ein Restaurant und einen dazugehörigen Parkplatz, der schönste Aussichtspunkt der Stadt, wie der Bruder meines lustigen Freundes sagte.
    Er habe seinen Computer an sich genommen, sagte der Bruder meines lustigen Freundes, er mache seit einem halben Jahr nichts anderes, als den Inhalt dieses Computers zu analysieren, wobei ihm das Erraten des Passwortes die geringste Mühe bereitet hatte, viel schwieriger sei es, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, wobei scheinbar Bedeutungsloses plötzlich an Bedeutung gewinne, um dann doch wieder als unwichtig verworfen zu werden. Er habe nach dem Theaterstück gesucht, das sein Bruder vor Jahren, noch in seiner Studienzeit, geschrieben hätte, in welchem zwei politische Gefangene in ihrer Zelle ihren gemeinsamen Selbstmord planen. Auf die Frage des einen, wie sie es denn tun sollten, ob sie versuchen sollten, Tabletten aufzutreiben, einen scharfen Gegenstand, sagt der andere: Ich dachte immer, wir erhängen uns. Es war mir immer schon klar, dass wir uns erhängen werden. Er habe das Theaterstück aber nicht gefunden, sagte der Bruder, auch keine Briefe oder Notizen, keine wichtigen jedenfalls. Es sei jedoch beinahe unmöglich, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, das Bedeutungsvolle vom Bedeutungslosen. Man sucht nach der Wahrheit und stößt auf Nichtiges, auf Videospiele, einschlägige Internetseiten. Und man weiß nicht, ob dies die Müllberge am Rand des beschwerlichen Weges zur Wahrheit sind oder die Wahrheit selbst, wenn es denn eine gibt.
    Ich überlegte, was ich ihm erzählen könnte, dem Bruder. Manchmal schauten wir zusammen fern, mein lustiger Freund und ich, in seinem Zimmer. Wir schauten merkwürdige Sportarten wie Biathlon oder Sumoringen oder dieses Spiel, in welchem die Menschen um einen Granitstein herum mit einer Art Besen auf dem Eis herumwischen und auf diese Weise die Bewegung des Steines beeinflussen. Er sagte: Komm rein, und ich setzte mich auf das Sofa, nachdem ich die Zeitungen, die Bücher und all den Ramsch, der darauf lag, beiseite geschoben hatte, und er setzte sich neben mich. Die Sumoringer krallten sich wie übergewichtige Riesenkinder ineinander fest, die Biathlonläuferinnen hetzten auf Skiern durch den Wald, um schließlich auf eine kreisrunde Zielscheibe zu schießen. Er kommentierte das Gesehene, und ich fragte nach den Spielregeln, die mich nicht im Geringsten interessierten. Ich kam nie auf die Idee, bei ihm zu bleiben, nur einmal tat ich so, als wäre ich eingeschlafen, ließ meinen Kopf auf die Seite fallen, nicht auf seine Seite, sondern auf die andere, auf die Lehne des Sofas. Nach einiger Zeit stand er auf, machte den Fernseher aus, legte eine Decke über mich, ging sich die Zähne putzen und legte sich schlafen. Ich wartete, bis sein Atem langsamer und regelmäßiger wurde, und ging dann auch schlafen.
    Ich lehnte an der Brüstung und blickte auf die Stadt, hinter der sich grauviolette Bergsilhouetten mit einzelnen Lichtpunktansammlungen erhoben. Die Stadt erschien von hier aus gesehen wie eine Großstadt, obwohl das Lichtermeer überschaubar war. Wir haben uns alle in den großen Städten versucht und sind wieder zurückgekommen, sagte mein lustiger Freund, weil wir uns hier nicht aus den Augen verlieren können. Der Bruder meines lustigen Freundes war im Auto geblieben, mit der Weinflasche. Ich fragte mich einmal mehr und wieder, was ich ihm sagen sollte, was wusste ich schon. Was weiß man schon über jemanden.
    Erst wenn jemand im Treppenhaus hängt, schon ein wenig gelb im Gesicht, aber ruhig, als wäre er schwebend eingeschlafen, wie sie sagten, aber das konnte ja kaum sein, bestimmt war das Gesicht grausam

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