Das weisse Meer
Georg zu besuchen, schien mir unverzeihlich, und nur mit einem durch Wörter wie Gütertrennung, Krippenplatzzuteilung oder Aufmerksamkeitsdefizit geprägten Alltag zu erklären, der mich in eine an Amnesie grenzende Vergesslichkeit gegenüber allem, was mir vorher wichtig gewesen war, versetzt hatte. Nach der Beerdigung von Tante Esther nahm ich die wöchentlichen Besuche bei Onkel Georg wieder auf. Tante Esther war die älteste der Schwestern meiner Mutter gewesen, ich kannte sie nur von den üblichen, anlässlich von Hochzeiten, Taufen oder Beerdigungen stattfindenden Familienzusammenkünften. Gerade waren die Beerdigungen in der Überzahl. Daniel war zur Beerdigung gekommen, nicht meinetwegen, und auch nicht wegen der Tante Esther, deren Tod ihn noch weniger berühren musste als mich, sondern allein wegen der Kinder, wie er sagte. Die Kinder waren außer sich vor Freude, Paul schlug mehrmals mit den Füßen an die Gebetbank, und Benjamin hüpfte strahlend auf Daniels Knien auf und ab.
Onkel Georg war zu spät gekommen und saß ganz hinten, ich bemerkte seine Anwesenheit erst beim Singen des Kirchenliedes. Nachdem der Pfarrer bereits Ewigkeiten über das den eigenen und fremden Kindern geopferte Leben Tante Esthers, einer Sonderschullehrerin, über ihre Verdienste in der kirchlichen Gemeinde gesprochen hatte und über ihr Andenken in Ewigkeit, Amen, hörte ich Onkel Georgs Bassstimme aus dem Hintergrund des Kirchenschiffes, und plötzlich vergaß ich meine eigene düstere Weltvorstellung und glaubte mich wieder klein und gläubig. Selbstvergessen lauschte ich den Christenworten um Schuld und Vergebung. Wie hatte ich Onkel Georgs Bassstimme, tiefer als das nächtliche Donnergrollen eines fernen Gewitters, vergessen können, das Gefühl, als hätten alle Worte einen Sinn: Oh, dass mein Sinn ein Abgrund wär, und meine Seel’ ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen. Draußen vor der Kirche, unter einem vor Kälte strahlend blauen Himmel, sagte der Onkel Georg: Sehen wir uns nächsten Mittwoch? Ja, sagte ich. Als wäre dies vollkommen klar, als wäre immer schon klar gewesen, dass ich nächsten und überhaupt jeden Mittwoch zu Onkel Georg gehen würde.
Seitdem ich mich erinnern kann, war der Mittwoch Onkel Georgs Tag gewesen. Unsere Mutter setzte uns in den Trolleybus, mit dem wir dann bis zur Endstation namens Holzerhurd fuhren, wo Onkel Georg auf uns wartete. Jeden Mittwoch stand Onkel Georg am selben Ort bei dem dürren Bäumchen an der Bushaltestelle, das im Vergleich zum riesigen Onkel Georg geradezu winzig erschien, und ruderte mit seinen langen Armen, sobald er uns oder auch nur den Bus erblickte. Der Onkel Georg war sehr groß. Wie er erzählte, habe seine Körpergröße immer oberhalb all der Linien auf den Tabellen gelegen, mit denen man beim Schularzt die ungefähr zu erwartende Größe am Ende des Wachstums bestimmen konnte, trotzdem hatte niemand geglaubt, dass er schließlich tatsächlich zwei Meter und neun Zentimeter messen würde. Der Onkel Georg stand also an der Bushaltestelle, ruderte mit den Armen, und wir rannten auf ihn zu. Er bückte sich, indem er seinen Oberkörper einknickte wie eine gefällte Tanne und je einen der langen Arme um mich und meinen Bruder legte.
Es gab schon in meiner Jugend eine Zeit, in der ich meine Mittwochsbesuche bei Onkel Georg eingestellt hatte; in der seltsamen Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, in der ich mich für den langen, unbeholfenen Georg schämte, was ich mir aber nicht eingestand, sondern sagte, es sei wegen des Jazztanzes, der jeweils mittwochnachmittags stattfand. Ich zwängte also meinen unförmig hölzernen Teenagerkörper in violette Leggins und ahmte die Bewegungen der anderen Mädchen nach, sei es, um den unangenehm gewordenen Besuchen bei Onkel Georg zu entgehen, oder auch nur, um einmal im Leben dazuzugehören. Bald merkte ich aber, dass es einfacher war, Jazztanz wie auch die anderen Mädchen blöd zu finden, und ich ging nicht mehr hin. Stattdessen lief ich durch die Stadt, durch Straßen und Einkaufszentren und durch den Park, über den eine farbige Brücke führte, in welchem es Ziegen und einen sprechenden Beo gab, bis ich schließlich, wie zufällig, wieder bei Onkel Georg landete.
So fuhr ich auch am darauffolgenden Mittwoch mit dem Bus in die Holzerhurd. Ich hätte beinahe erwartet, der Onkel Georg würde an der Bushaltestelle stehen, lang und dürr, mit der roten Schirmmütze über den weißen Haaren und den riesigen
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