Das weisse Meer
Absinth, verdünnt mit Wasser und viel Zucker. Die Mädchen aus dem Dorf hassten uns. Der Junge war blond und dünn, er war kaum fünfzehn Jahre alt und sah aus wie ein junger Gott. Ich wusste, dass meine Freundin sich verliebt hatte, und sagte nichts von mir.
Ich weiß genau, dass die Geschichte, die meine Freundin nun erzählt, erfunden ist. Ich kenne sie zu gut, meine Freundin, ich kenne sie in- und auswendig, ich kenne ihre Worte, bevor sie sie ausspricht, und trotzdem wird mir nie langweilig. Nur manchmal bin ich ungeduldig. Von dem einen Mädchen aus dem Nachbardorf handelt die Geschichte meiner Freundin, von dem Mädchen mit den strähnigen braunen Haaren und den nach innen gewandten Augen, nicht ganz richtig im Kopf war das Mädchen, sagte man. Chez Henri , bei der Ruine habe sie das Mädchen gesehen, sagte meine Freundin, den Kopf vergraben im Schoß eines Mannes. Sie würde es mit allen treiben, das Mädchen, erzähle man im Dorf, so meine Freundin, sogar mit dem verrückten Jacques. Meine Freundin blickt mich an, ihr Haar ist von der Sonne ganz blond geworden und sieht aus, als würde es nach Meer riechen, dabei waren wir gar nicht am Meer. Unter ihrem dünnen T-Shirt zeichnen sich die Brustwarzen dunkel ab. Auf dem T-Shirt steht Bubblegum .
Meine nächste schlimme Geschichte ist nur halb so schlimm wie die vom Kupfersulfat. Paul durfte einmal eine Nabelschnur durchschneiden. Dies war etwas, was Paul durfte und ich nicht; etwas, worin er mir voraus war. Eine Eifersuchtsgeschichte, wie der ewige Kampf, wer schneller laufen konnte oder wer mehr Rosinen im Müsli habe, die wir aus der Milch fischten, am Tellerrand aufreihten und zählten. Dabei mochte ich Rosinen gar nicht. Das Kind, ein Brüderchen, dessen Geschlecht ich aber erst am nächsten Tag bemerkte, hatte einen roten Kopf und war überhaupt sehr rot. Nur die Nabelschnur war bläulich. Mit einer Schere schnitt Paul diese Nabelschnur durch. Die Schere war so groß, dass er sie kaum alleine halten konnte. An alles andere kann ich mich nicht erinnern, weil sich das Video der Geburt des kleinen Elefäntchens, das wir einige Jahre später im Zoo anschauten, vor das Bild der Geschwistergeburt geschoben hat. Ich versuchte, einen unsichtbaren Punkt hinter dem Fernseher und der Elefantengeburt zu fixieren, um nicht umzukippen vom Rauschen des Blutes in meinem Kopf.
Meine Freundin findet die Geschichte schlimmer als ich. Sie hätte nie eine Nabelschnur sehen, geschweige denn durchschneiden können, sagt sie angewidert, ihr werde schon übel beim Hören eines Wortes wie Mutterkuchen .
Am Abend nach dem Waldbrand gingen wir grillen. Chez Henri nennen sie die Ruine einer mittelalterlichen Burg am Ufer des Étang. Henri war ein Herzog, dessen Frau ihre vier Kinder im Étang ertränkte. Die Frau wurde hingerichtet, und Henri erhängte sich darauf, aber wie erzählt wird, lebt sein ruheloser Geist immer noch in der Ruine und huscht zuweilen über das seichte Gewässer. An den verbliebenen Mauern stehen die Namen derer, die hier waren, und die der Geliebten, I Love You, mon amour pour toujours. Fuck la police . Der Boden ist brauner Staub, zwischen Steinbrocken liegen leere Bierflaschen und Scherben, Überreste der nächtlichen Feste und Saufgelage der Dorfjugend. An dem Abend nach dem Waldbrand saßen wir auf dem staubigen Boden um das Feuer, und ich trank etwa zehn Flaschen Bier mit einem Jungen aus dem Nachbardorf.
Der Junge hatte die Angewohnheit, uns Geschenke mitzubringen, um uns zu beeindrucken, zwei alte Fischerruten, ein vom Étang angeschwemmtes Skelett einer Katze oder die Beinprothese seines verstorbenen Großvaters. Einige Tage zuvor hatte er eine Gans mitgebracht. Er kam zur Tür herein, holte das flatternde Tier aus seinem Rucksack, und ehe ich mich versah, hielt ich zwei riesige Gänseflügel in den Händen. Als das Genick unter seinen Händen brach, spürte ich es fast körperlich. Die tote Gans zuckte und flatterte immer noch auf dem Steinboden. Das versteht ihr eben nicht, sagte er, dabei hatte ich weder Entsetzen noch Bewunderung geäußert. Wir sind Vegetarierinnen, sagte meine Freundin, das war gelogen. Der Junge packte die Gans, deren Nerven noch lebten, in einen blaudurchsichtigen Müllbeutel und brachte das Geschenk seiner Großmutter.
Meine Freundin und der junge Gott saßen etwas abseits und sprachen über Henri, den Geist. Tu m’étonnes, sagte der Junge neben mir, du erstaunst mich, wobei ich nicht wusste, ob er mich oder das viele
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