Das weisse Meer
Ohr und sage: Hallo. Auf dem aufgeschlagenen Telefonbuch liegt eine Tüte mit Resten von Fritten und eingetrocknetem Ketchup, auch die Telefonbuchseite ist mit Ketchup verschmiert. Jacques tippt den Rest des Pulvers mit dem Finger auf und fährt sich damit über seine verfärbten Zähne. Er grinst mich an, als hätte er mich überlistet.
Die wenigen Leute verteilen sich an den Rändern des großen Kellerraums mit den kahlen Betonwänden. Als ich zur Bar gehe, fürchte ich plötzlich, dass ich zu schlittern beginne und ausgleite auf dem glatten Boden. Als wäre der See zugefroren, wie früher, eine weiße Fläche, wie die Haut auf der Milch. Eine Eisschicht, die in einem hohen Ton unter den scharfen Kufen der Schlittschuhe summt. Das Eis zu fest, um zu bersten, wenn wir umfielen, erzitterte es nicht einmal unter unseren Fliegengewichten. Man konnte sich flach darauf legen und mit eiskalten Ohren horchen, ob die Fische tief unter der meterdicken Eisschicht noch lebten. Der Fischgesang hallte dumpf unter dem Eis, oder war es nur der Wind, der den feinen Schnee in weißen Staubwolken über den See blies.
An der Bar, die aus einer alten Kommode besteht, dränge ich mich zwischen die redenden Leute und versuche, den Blick einer jungen Frau mit gebleichten Haaren zu erfassen. Sie ist unglaublich langsam, im Zeitlupentempo gießt sie Wodka oder Gin in Plastikbecher, reißt Eiswürfel aus einer Plastikfolie, Wasser tropft aus der Folie und zwei Eisklumpen fallen auf den Boden. Dann füllt sie die Becher mit Tonic auf. Ich hebe einen der Eisklumpen vom Boden auf und zerdrücke ihn in meiner Hand. Ich bestelle ein Mineralwasser für mich und ein Bier für den verrückten Jacques. Der Becher Wasser ist in wenigen Schlucken ausgetrunken, und da ich Jacques nicht finden kann, beginne ich, auch das Bier zu trinken.
Paul steht allein an der Wand und hält einen Plastikbecher Cola in der Hand. In der Schule wurde Paul einmal von den anderen Kindern in einen Schrank gesperrt. Bevor die Schulstunde begann, schlossen seine Klassenkameraden ihn in den Materialschrank ein. Die Kinder kicherten und tuschelten lauter als sonst, aber der Lehrer schöpfte keinen Verdacht, er bemerkte Pauls Abwesenheit nicht einmal, wie man auch Pauls Anwesenheit kaum je bemerkte. Es war schon fast Mittag, als man ein leises Pochen vernahm, so leise, als würde man vorsichtig an eine Tür klopfen, hinter der jemand schläft. Das Pochen ging beinahe unter inmitten der Stimme des Lehrers und dem Murmeln der Kinder, die Schiffe versenken spielten und Paul, der im Schrank zwischen Schulheften und Bleistiftschachteln kauerte, längst vergessen hatten. Erst am Ende der Stunde fiel jemandem Paul wieder ein, und als das Gelächter der Kinder lauter wurde, schloss der Lehrer den Schrank auf.
Meine Freundin tanzt in der Mitte des Raumes zu harten Technobeats. Ihre Wangen sind leicht gerötet, und ihre Haare kräuseln sich über der Stirn und an den Schläfen. Sie lacht, sagt etwas, und ich nicke. Meine Bewegungen liegen neben dem Rhythmus, es ist alles um Sekundenbruchteile versetzt. Über den Bässen ertönt Kylie Minogues künstliche Kleinmädchenstimme. Ein Junge hat mir ein Bier geholt, ich kann mich nicht erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Er hat ein kantiges dunkles Gesicht und eine Hakennase. Auf seinem T-Shirt steht der Name einer Telefongesellschaft. Ich höre zwar, was er sagt, doch die Wörter sind blubbernde Luftblasen, die an die Wasseroberfläche steigen, zerplatzen und sich in Wasserringen auflösen, die sich ausdehnen wie der Schall, nach außen immer schwächer werden, bis das Wasser sich wieder beruhigt. Ich tanze nun in sicherer Entfernung zu dem Jungen. Der DJ, ein gedrungener Mann mit kleinen Augen, steht starr hinter dem Tisch, auf dem die Plattenspieler aufgebaut sind. Die Bewegungen der Tanzenden scheinen übereinzustimmen mit der Musik und den Lichtblitzen des Stroboskops, nur ich finde keinen Takt. Plötzlich denke ich an Paul. Mir ist etwas Wichtiges eingefallen, das ich ihm sagen muss, etwas, das ich ihm schon seit Jahren sagen wollte. Ich sehe Paul in einem der Ledersessel am Ende des Raums, auf der Lehne des Sessels daneben sitzt meine Freundin, sie wendet mir den Rücken zu. Ich gehe ein paar Schritte auf sie zu, auf halbem Weg halte ich inne. Meine Freundin neigt sich zu Paul, sie scheint sein Ohr beinahe mit den Lippen zu berühren. Ich habe vergessen, was ich Paul sagen wollte.
Ich finde mich wieder auf einem
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