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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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infektiöser Nebel, der ihr nur schadete. Wenn ein Dienstmädchen oder ein Gärtnersjunge es einmal wagte, ihr über den Weg zu laufen, konnte es geschehen, dass sie ausrief: »Kann ich denn nicht einmal einen Moment allein sein?«, und in die entgegengesetzte Richtung davonstürmte.
    Auf der Suche nach Antworten durchforstete sie Ambroses Atelier, das er unberührt zurückgelassen hatte. In der obersten Schublade seines Schreibtischs entdeckte sie ein Notizbuch mit Aufzeichnungen von ihm. Sie wusste, dass es ihr eigentlich nicht zustand, in diesen Hort des Privaten einzudringen, doch sie sagte sich, dass Ambrose seine tiefsten Gedanken wohl kaum an einem so zugänglichen Ort wie der unverschlossenen obersten Schublade seines Schreibtischs aufbewahrt hätte, wenn ihm daran gelegen gewesen wäre, sie geheim zu halten. Allein, auch das Notizbuch barg keine Antworten. Vielmehr verwirrte und beunruhigte es Alma nur noch mehr. Die Seiten enthielten weder Bekenntnisse noch Sehnsüchte, noch handelte es sich um ein schlichtes Verzeichnis alltäglicher Geschehnisse, wie sie es von den Tagebüchern ihres Vaters kannte. Kein einziger Eintrag war datiert. Und viele Sätze waren nicht einmal richtige Sätze – nur Fragmente, durchbrochen von langen Gedankenstrichen und Auslassungspunkten.
    Was ist Dein Wille –? … Ein ewiges Vergessen aller Ärgernisse … zu verlangen einzig nach dem, was rein ist und heil, sich verschreiben einzig dem göttlichen Leitsatz der Selbstbestimmung … Überall das Liebgewonnene enthalten finden … Winden sich Engel so schmerzerfüllt gegen sich selbst und das stinkende Fleisch? Möge alles Verdorbene in mir unermüdlich sein und wiedergewonnen in nicht-selbst-verstümmelnder Läuterung! … Durch und Durch – wieder geboren! – in gütiger Standhaftigkeit! … Nur durch geraubtes Feuer oder geraubtes Wissen schreitet die Weisheit voran! … In der Wissenschaft keine Kraft, doch im Zusammenschluss aus beidem – die Achse, auf der das Feuer Wasser gebiert … Christus, sei mein Verdienst, erschaffe das Exempel in mir! … SENGENDER Hunger, der gestillt wird, gebiert nur noch mehr Hunger!
    So ging das seitenweise. Es waren Denkschnipsel. Sie begannen nirgends, führten nirgendwo hin, kamen nirgends an. In der Welt der Botanik hätte man eine solch wirre Sprache als Nomina Dubia oder Nomina Ambigua bezeichnet – irreführende und verrätselte Pflanzenbezeichnungen, die eine Klassifizierung der Präparate unmöglich machen.
    Eines Nachmittags schließlich wurde Alma schwach und brach die Siegel des aufwendig gefalteten Papiers, das Ambrose ihr zur Hochzeit geschenkt hatte – das sonderbare Objekt, die Liebesbotschaft, die niemals zu öffnen er sie ausdrücklich gebeten hatte. Sie öffnete die zahllosen Falzen und strich es glatt. In der Mitte der Seite stand ein einziges Wort in seiner eleganten, unverkennbaren Handschrift: ALMA .
    Unbrauchbar.
    Wer war dieser Mensch? Oder besser: Wer war er gewesen? Und wer war Alma, nun, da er fort war? Was war sie, fragte sie sich weiter. Eine verheiratete Jungfrau, die kaum mehr als einen Monat lang ein keusches Bett mit ihrem hinreißenden jungen Gatten geteilt hatte. Durfte sie sich denn überhaupt Ehefrau nennen? Wohl kaum. Es war ihr unmöglich, sich weiterhin als »Mrs Pike« anreden zu lassen. Der Name war wie ein grausamer Scherz, und sie fuhr jeden an, der es wagte, ihn zu verwenden. Sie war immer noch Alma Whittaker, so wie sie stets Alma Whittaker gewesen war.
    Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie ihren Mann doch noch hätte überzeugen können, sie so zu lieben, wie es einem Ehemann entsprach, wenn sie nur schöner oder auch jünger gewesen wäre. Wie war Ambrose denn darauf gekommen, sie als Kandidatin für eine mariage blanche auszuwählen? Sicherlich doch, weil sie der Rolle äußerlich entsprach: eine unansehnliche Person ohne jeden Reiz. Auch quälte sie sich mit der Frage, ob sie nicht doch hätte lernen können, die Demütigungen dieser Ehe zu ertragen, so wie der Vater es ihr geraten hatte. Vielleicht hätte sie sich ja in Ambroses Bedingungen fügen sollen. Wenn sie es bloß geschafft hätte, ihren Stolz zu besiegen, ihr Begehren zu ersticken, dann hätte sie ihn jetzt noch an ihrer Seite – als Gefährten ihrer Tage. Einem stärkeren Charakter wäre dies womöglich gelungen.
    Noch ein Jahr zuvor war sie eine zufriedene, patente, umtriebige Frau gewesen, die nie etwas von Ambrose Pike gehört hatte, und nun vergällte

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