Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
war ein böser Mensch?«´
»Nein. Aber vom Himmel herabgestiegen war er auch nicht. Er war einfach nur ein kleiner Einfaltspinsel, das sage ich dir doch. Und er hätte auch ein harmloser Einfaltspinsel bleiben können, aber du bist auf ihn hereingefallen. Nun, Kind, wir fallen alle einmal auf irgendwelche Einfaltspinsel herein, und manchmal sind wir sogar so dumm, sie zu lieben.«
»Kein Mann wird mich je besitzen«, sagte Alma.
»Vermutlich nicht«, beschied Hanneke energisch. »Aber das musst du nun ertragen – du bist ganz sicher nicht die Erste. Du erlaubst dir schon viel zu lange, dich im Sumpf der Trauer zu suhlen; deine Mutter würde sich für dich schämen. Du verweichlichst, und das ist eine Schande. Glaubst du, du bist die Einzige, die leidet? Lies die Bibel, Alma: Diese Welt ist kein Paradies, sondern ein Tal der Tränen. Glaubst du, Gott macht für dich eine Ausnahme? Schau dich doch um, was siehst du da? Qualen allenthalben. Du triffst auf Leid, wohin du dich auch wendest. Und wenn du das Leid nicht auf den ersten Blick entdeckst, musst du einfach nur genauer hinsehen. Dann wirst du es bald erkennen.«
Hannekes Worte waren streng, doch allein der Klang ihrer Stimme wirkte beruhigend. Das Holländische war keine schöne Sprache wie das Französische, es war nicht kraftvoll wie das Griechische oder edel wie Latein, doch auf Alma wirkte es so tröstlich wie Haferbrei. Am liebsten hätte sie den Kopf in Hannekes Schoß gebettet und sich bis in alle Ewigkeit schelten lassen.
»Schüttele die Staubschicht endlich ab!«, fuhr Hanneke fort. »Deine Mutter wird mir noch als Geist erscheinen, wenn ich dir weiter erlaube, so weinerlich hier herumzulaufen und an den kümmerlichen Resten deines Leidens zu nuckeln, wie du es seit Monaten tust. Deine Knochen sind alle intakt, also stell dich gefälligst wieder auf deine eigenen Füße. Würdest du von uns erwarten, dass wir ewig um dich trauern? Hat dir etwa jemand einen Splitter ins Auge gesteckt? Nein, das ist nicht der Fall – also lass diese Leichenbittermiene! Hör auf, wie ein Hund auf dem Diwan in der Remise zu schlafen. Kümmere dich um deine Pflichten. Kümmere dich um deinen Vater – siehst du nicht, dass er alt und gebrechlich ist und nicht mehr lange leben wird? Und lass mich in Frieden. Ich bin wahrhaftig zu alt für solche Kindereien, und du auch. An diesem Punkt deines Lebens, nach allem, was du gelernt hast, wäre es ein Jammer, wenn du dich nicht besser beherrschen könntest. Geh auf dein Zimmer zurück, Alma – auf dein richtiges Zimmer, hier in diesem Haus. Morgen früh wirst du dein Frühstück mit uns allen gemeinsam einnehmen, so wie immer, und ich erwarte von dir, dass du angemessen gekleidet bist, wenn du dich zu Tisch setzt. Du wirst jeden Bissen deines Frühstücks verzehren, und du wirst dich bei der Köchin dafür bedanken. Du bist eine Whittaker, Kind. Reiß dich zusammen. Es reicht.«
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Und Alma tat wie geheißen. Sie kehrte, wenn auch geschlagen und mit hängendem Kopf, in ihr Zimmer zurück. Sie kehrte an den Frühstückstisch zurück und auch zu ihren Pflichten gegenüber dem Vater und der Verwaltung von White Acre. So weit wie möglich nahm sie das Leben wieder auf, das sie vor Ambroses Ankunft geführt hatte. Gegen die Tratschereien der Dienstmädchen und der Gärtnersjungen gab es kein Mittel, doch wie Henry prophezeit hatte, wandten sie sich bald anderen Skandalen und dramatischen Ereignissen zu und stellten das Gerede über Almas Kummer weitestgehend ein.
Alma indessen vergaß ihren Kummer keineswegs, doch sie flickte die Risse im Gewebe ihres Lebens, so gut sie konnte, und machte weiter. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Gesundheit ihres Vaters tatsächlich nachließ, und zwar stetig, wie Hanneke de Groot es gesagt hatte. Das hätte sie im Grunde nicht überraschen dürfen – der Mann war schließlich neunzig! –, doch sie hatte ihn immer als einen solchen Koloss, ein solches Paradebeispiel menschlicher Unverwüstlichkeit betrachtet, dass seine plötzliche Hinfälligkeit sie ebenso erstaunte wie beunruhigte. Henry war über immer längere Zeiträume bettlägerig und zeigte sich gänzlich desinteressiert an wichtigen geschäftlichen Fragen. Sein Gehör verschlechterte sich, das Augenlicht ebenso. Um überhaupt noch etwas zu verstehen, benötigte er ein Hörrohr. Und Alma benötigte er sowohl mehr als auch weniger als je zuvor: mehr als Pflegerin und weniger als Sekretärin. Von Ambrose sprach er nie. Niemand sprach
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