Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Prolog
Zusammen mit dem neuen Jahrhundert erblickte Alma Whittaker am 5. Januar des Jahres 1800 das Licht der Welt.
Es dauerte nicht lange, da gab es bereits allerlei Meinungen zu ihr.
Als Almas Mutter den Säugling zum ersten Mal sah, war sie durchaus zufrieden mit dem Ergebnis. Beatrix Whittaker hatte in puncto Nachkommenschaft bis zu diesem Tag wenig Glück gehabt. Ihre ersten drei Versuche, ein Kind zu bekommen, waren wie traurige Bächlein versiegt, anstatt zu wachsen und anzuschwellen. Ihr jüngster Versuch – ein nahezu vollkommener Sohn – hatte es bis zur Schwelle des Lebens geschafft, sich just am Morgen seiner Geburt jedoch eines anderen besonnen: Er kam bereits tot zur Welt. Nach solchen Verlusten ist jedes Kind, das überlebt, ein gelungenes Kind.
Den kräftigen Säugling im Arm, flüsterte Beatrix in ihrer holländischen Muttersprache ein Gebet. Sie betete, ihre Tochter möge zu einer gesunden, vernünftigen, intelligenten jungen Frau heranwachsen, sich nicht in Gesellschaft allzu gepuderter Mädchen begeben, nicht über vulgäre Geschichten lachen, sich nicht mit leichtsinnigen Männern an Kartentische setzen, keine französischen Romane lesen und sich nicht schlimmer als wilde Indianer benehmen oder sonst wie dem Ruf einer guten Familie Schaden zufügen, mit anderen Worten een onnozelaar werden, ein Einfaltspinsel. Darin gipfelte ihr Segenswunsch – oder das, was bei einer strengen Frau wie Beatrix Whittaker als Segenswunsch gelten darf.
Die Hebamme, eine deutschstämmige Einheimische, war der Ansicht, dass es eine anständige Geburt in einem anständigen Haus gewesen sei, also müsse Alma Whittaker auch ein anständiges Baby sein. Die Kammer geheizt, Suppe und Bier umsonst, und dazu eine Mutter, so robust, wie es von einer Holländerin nicht anders zu erwarten war.
Zudem wusste die Hebamme, dass sie ihren Lohn bekommen würde, und zwar einen stattlichen. Jedes Baby, das Geld bringt, ist ein willkommenes Baby. Also gab auch sie Alma ihren Segen, wenn auch ohne große Inbrunst.
Hanneke de Groot hingegen, die Hauswirtschafterin des Anwesens, war weniger begeistert. Das Baby war kein Junge und nicht einmal hübsch. Es hatte ein Gesicht wie ein Pfannkuchen und war so blass wie ein ausgeblichener Dielenboden. Es würde Arbeit machen, wie alle Kinder. Und wie alle Arbeit würde auch diese vermutlich auf ihren Schultern landen. Trotzdem segnete sie das Kind, denn das Segnen eines Babys ist Pflicht, und Hanneke de Groot war ein pflichtbewusster Mensch. Hanneke zahlte die Hebamme aus und wechselte die Bettlaken. Dabei half ihr mehr schlecht als recht eine junge Magd – ein schwatzhaftes Mädchen vom Land und neuester Zuwachs der Hausgemeinschaft –, die lieber das Baby angaffte, als die Kammer aufzuräumen. Der Name dieser Magd tut hier nichts zur Sache, denn Hanneke de Groot würde sie am nächsten Tag als unbrauchbar entlassen und ohne Empfehlungsschreiben fortschicken. Doch an diesem Abend ließ die unbrauchbare Magd, die sich selbst nach einem Baby sehnte, nicht von dem Neugeborenen ab und gewährte der jungen Alma einen warmen, herzlichen Segenswunsch.
Dick Yancey – ein großgewachsener, imposanter Mann aus Yorkshire, der mit eiserner Hand die internationalen Geschäftsinteressen des Hausherrn vertrat (und zufällig in jenem Januar auf dem Anwesen der Whittakers weilte, wo er auf Tauwetter im Hafen von Philadelphia wartete, um sich nach Niederländisch-Ostindien zu begeben) – hatte zu dem Neugeborenen nicht viel zu sagen. Fairerweise wollen wir nicht verschweigen, dass Plaudereien generell nicht seine Stärke waren. Als Mr Yancey erfuhr, dass Mrs Whittaker ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht hatte, runzelte er nur die Stirn und sagte, wortkarg wie immer: »Hartes Geschäft, das Leben.« War das eine Segnung? Schwer zu sagen. Entscheiden wir im Zweifel zu seinen Gunsten und betrachten es als solche. Bestimmt sollte es kein Fluch sein.
Was nun Almas Vater betraf – Henry Whittaker, den Hausherrn –, so freute sich dieser über sein Kind. Ja, er war sogar hocherfreut. Es störte ihn weder, dass das Baby kein Junge, noch dass es nicht hübsch war. Er gab Alma zwar nicht seinen Segen, aber nur deshalb, weil er nichts von Segenswünschen hielt. (»Worum Gott sich kümmert, das geht mich nichts an«, sagte er häufig.) Nichtsdestotrotz bewunderte Henry sein Kind ohne Wenn und Aber. Was auch nicht weiter erstaunlich war: Schließlich hatte er es gezeugt, und Henry Whittaker neigte zu
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