Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
stand derselbe kleine, abgewetzte Lederkoffer, der all seine Habseligkeiten enthielt. Er trug denselben braunen Cordanzug. Er hatte nichts aus White Acre mitgenommen.
Ihre letzten Worte an ihn lauteten: »Ich bitte dich, Ambrose, mir eine Gefälligkeit zu erweisen: Sprich mit niemandem, den du triffst, über unsere Ehe. Kein Mensch braucht zu wissen, was zwischen uns vorgefallen ist. Du wirst nicht als Henry Whittakers Schwiegersohn reisen, sondern als sein Angestellter. Alles Weitere würde nur Fragen nach sich ziehen, und ich lege keinen Wert darauf, dass die Welt mir Fragen stellt.«
Er nickte nur. Er sagte kein Wort mehr. Er sah angegriffen und erschöpft aus.
Dick Yancey brauchte Alma nicht darum zu bitten, ihre Vorgeschichte mit Mr Pike geheim zu halten. Das Hüten von Geheimnissen war sein täglich Brot; genau deswegen hatten die Whittakers ihn ja auch schon so lange in ihren Diensten.
In dieser Hinsicht war Dick Yancey wirklich nützlich.
Kapitel 18
In den folgenden drei Jahren hörte Alma kein Wort von Ambrose; ja, sie hörte nicht einmal allzu viel über ihn. Im Frühsommer 1849 traf die Nachricht von Dick Yancey ein, dass sie nach einer ereignislosen Überfahrt wohlbehalten auf Tahiti angekommen seien. Alma wusste, dass dies nicht gleichbedeutend mit einer einfachen Überfahrt war: Für Dick Yancey war jede Reise ereignislos, die nicht in einem Schiffbruch oder einer Entführung durch Piraten endete. Ambrose, so berichtete er, habe man in der Matavai-Bucht zurückgelassen, in der Obhut eines botanisierenden Missionars, des Reverend Francis Welles, und Mr Pike sei bereits an die Aufgaben auf der Vanilleplantage herangeführt worden. Dick Yancey selbst hatte Tahiti kurz darauf verlassen, um sich weiteren Whittaker-Geschäften in Hongkong zu widmen. Danach kamen keine Nachrichten mehr.
Es war eine Zeit tiefer Verzweiflung für Alma. Verzweiflung ist eine eintönige Angelegenheit, und so kam es, dass jeder Tag zum monotonen Abbild des vorangegangenen wurde: traurig, einsam und ununterscheidbar. Der erste Winter war der schlimmste. Die Monate erschienen ihr kälter und dunkler als alle Wintermonate, die sie je erlebt hatte, und sooft sie den Weg zwischen Herrenhaus und Remise zurücklegte, fühlte sie sich, als kreisten unsichtbare Raubvögel über ihr. Die kahlen Bäume sahen ihr trostlos entgegen, flehten um Wärme und schützende Kleidung. Der Schuylkill fror so rasch und fest zu, dass die Männer nachts Lagerfeuer auf der Eisfläche entzündeten und Ochsen am Spieß brieten. Wann immer Alma nach draußen trat, traf sie der Wind, erfasste sie und legte sich um sie wie ein starrer, eisiger Mantel.
Sie schlief nicht mehr in ihrem Zimmer. Im Grunde schlief sie überhaupt nicht mehr. Seit ihrer Auseinandersetzung mit Ambrose war sie praktisch ganz in die Remise gezogen; sie konnte sich nicht vorstellen, jemals wieder in ihrem Brautgemach zu nächtigen. Den gemeinsamen Mahlzeiten im Hause blieb sie fern, und zum Abendessen nahm sie stets dasselbe zu sich wie bereits zum Frühstück: Brot und Brühe, Milch und Melasse. Sie fühlte sich antriebslos, tragisch und ein wenig mordlüstern. Den Menschen, die sich am meisten um sie sorgten – Hanneke de Groot beispielsweise –, begegnete sie reizbar und ungeduldig, und an Leuten wie ihrer Schwester Prudence oder ihrer armen alten Freundin Retta verlor sie jegliches Interesse. Ihren Vater mied sie. Sie vernachlässigte ihre offiziellen Aufgaben auf White Acre. Sie beklagte sich bei Henry, er behandele sie ungerecht – er habe sie immer schon wie eine Dienstbotin behandelt.
»Ich habe auch nie behauptet, gerecht zu sein!«, polterte er und scheuchte sie zurück in ihre Remise, bis sie wieder Herrin ihrer selbst sei.
Sie glaubte, die ganze Welt verspotte sie, und so fiel es ihr schwer, der Welt gegenüberzutreten.
Alma hatte stets über eine robuste Konstitution verfügt, sie war nie der Trostlosigkeit eines langen Krankenlagers ausgesetzt gewesen, doch in jenem ersten Winter nach Ambroses Abreise gelang es ihr kaum, am Morgen aufzustehen. Sie verlor die Geduld für ihre Forschungen. Sie konnte sich kaum mehr vorstellen, weshalb sie sich einmal für Moose interessiert hatte – oder überhaupt für irgendetwas. All ihre früheren Leidenschaften waren wie von Unkraut überwuchert. Sie lud keine Gäste mehr nach White Acre ein. Sie hatte einfach nicht die Kraft. Konversation war unerträglich ermüdend, Schweigen noch schlimmer. Ihre Gedanken waren ein
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