Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
er ihr das ganze Dasein. Dieser Mensch war einfach aufgetaucht, er hatte Licht in ihr Leben gebracht, sie mit der Ahnung von Wundern und Schönheit in seinen Bann geschlagen, er hatte sie zugleich verstanden und missverstanden, er hatte sie geheiratet, ihr das Herz gebrochen, sie mit seinen tieftraurigen, hoffnungslosen Augen angesehen, er hatte seine Verbannung akzeptiert, und nun war er fort. Wie überwältigend und erbarmungslos das Leben doch war, dass eine solche Naturgewalt so plötzlich einfallen und wieder verschwinden und dabei so viel Zerstörung hinterlassen konnte!
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Die Jahreszeiten zogen schwerfällig dahin. Inzwischen schrieb man das Jahr 1850. Eines Nachts Anfang April schrak Alma aus einem grauenvollen, gesichtslosen Alptraum hoch. Mit beiden Händen fuhr sie sich an den Hals, weil sie glaubte, an den letzten trockenen Krümeln der Angst ersticken zu müssen. In ihrer Panik tat sie etwas höchst Merkwürdiges. Sie sprang von ihrem Diwan in der Remise und rannte barfuß über den eisigen Hof, die kiesbedeckte Auffahrt entlang, durch den griechischen Garten ihrer Mutter, auf das Herrenhaus zu. Sie bog um die Ecke und drückte die hintere Küchentür auf, mit hämmerndem Herzen, nach Atem ringend. Sie rannte in der Dunkelheit treppab – ihre Füße kannten jede ausgetretene Holzstufe – und blieb erst stehen, als sie vor den Gitterstäben rund um Hanneke de Groots Schlafkammer stand, im wärmsten Winkel des Kellers. Sie fasste nach den Stäben und rüttelte daran wie ein Häftling am Rande des Wahnsinns.
»Hanneke!«, rief Alma. »Hanneke, ich habe Angst!«
Hätte sie zwischen Aufwachen und Losrennen nur eine Sekunde nachgedacht, sie hätte sich vielleicht zusammengerissen. Eine Fünfzigjährige, die sich in die Arme ihrer alten Kinderfrau flüchtete! Das war lächerlich. Doch sie hatte sich nicht zusammengerissen .
»Wie ist daar?« , rief Hanneke erschrocken.
»Ik ben het. Alma !« , antwortete Alma und verfiel selbst in das vertraute, tröstliche Holländisch. »Du musst mir helfen! Ich habe schlecht geträumt.«
Mürrisch und verwirrt erhob sich Hanneke und öffnete die Tür. Alma warf sich in ihre Arme – in diese schweren, salzschinkengleichen Arme – und weinte wie ein kleines Kind. Verblüfft, aber schnell wieder gefasst, führte Hanneke sie zum Bett und drückte sie darauf nieder, legte die Arme um sie und ließ sie schluchzen.
»Na, na«, sagte Hanneke. »Du stirbst schon nicht daran.«
Doch Alma glaubte, sie müsse daran sterben, an diesem abgrundtiefen Schmerz. Sie konnte nicht einmal erahnen, wo er endete. Seit anderthalb Jahren sank sie immer tiefer hinab und fürchtete, auf ewig weiter darin zu versinken. An Hannekes Schulter weinte sie sich aus, schluchzte heraus, was schon so lange ihr verdunkeltes Gemüt erfüllte. Sie ließ wohl eine Tonnenladung Tränen an Hannekes Busen fließen, doch Hanneke hielt ganz still und sagte nichts, nur immer wieder: »Na, na, Kind. Du stirbst schon nicht daran.«
Als Alma sich schließlich wieder ein wenig gefasst hatte, griff Hanneke nach einem sauberen Handtuch und trocknete sie beide mit beiläufiger Sorgfalt ab, so wie sie in der Küche die Tische wischte.
»Wovor man nicht fliehen kann, das muss man ertragen«, sagte sie, während sie Alma das Gesicht abwischte. »Du wirst nicht sterben an deinem Schmerz – ebenso wenig wie wir anderen an unserem.«
»Aber wie kann man es denn ertragen?«, flehte Alma.
»Indem man würdig und gemessen seine Pflicht erfüllt«, erwiderte Hanneke. »Hab keine Angst vor der Arbeit, Kind. Du wirst Trost darin finden. Wenn du kräftig genug zum Weinen bist, dann bist du auch kräftig genug zum Arbeiten.«
»Aber ich habe ihn geliebt«, sagte Alma.
Hanneke seufzte. »Dann hast du einen kostspieligen Fehler begangen. Du hast einen Mann geliebt, der glaubte, die Welt wäre aus Butter gemacht. Du hast einen Mann geliebt, der am helllichten Tag die Sterne sehen wollte. Er war ein Einfaltspinsel.«
»Er war doch kein Einfaltspinsel.«
»Er war ein Einfaltspinsel«, wiederholte Hanneke.
»Er war einzigartig«, sagte Alma. »Er wollte nicht in einem sterblichen Körper leben. Er wollte ein himmlisches Wesen sein – und er wollte, dass auch ich eines werde.«
»Nun, Alma, du zwingst mich, es noch einmal zu sagen: Er war ein Einfaltspinsel. Gleichwohl hast du ihn behandelt, als wäre er vom Himmel herabgestiegen. Ihr alle habt ihn so behandelt!«
»Hältst du ihn etwa für einen Halunken? Glaubst du, er
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