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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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geworden, und auch Banks hatte genug von seinem Spielzeug. Die zweite Aufgabe bestand darin, an der amerikanischen Pazifikküste nordwärts zu segeln und die Nordwestpassage zu finden.
    Henrys Ungemach begann sofort. Er war unter Deck neben den Geflügelställen und Fässern untergebracht. Um ihn herum schimpften die Hühner und Ziegen, doch er schimpfte nicht. Er wurde von erwachsenen Männern, an deren salzigen Händen sich die Haut schuppte und deren Unterarme so breit wie Ambosse waren, drangsaliert, missachtet und gequält. Die älteren Seeleute verhöhnten ihn als Süßwassermatrosen, der nichts von den Härten des Reisens auf hoher See wusste. Bei jeder Expedition gab es Tote, sagten sie, und Henry würde der Erste sein.
    Sie unterschätzten ihn.
    Henry war der Jüngste, doch wie sich bald zeigen sollte, keineswegs der Schwächste. Das neue Leben war für ihn kaum unbequemer als das, was er ohnehin kannte. Er lernte, was zu lernen erforderlich war. Er lernte, wie man Mr Nelsons Pflanzen zum Zwecke der wissenschaftlichen Dokumentation trocknete, präparierte und in freier Natur zeichnete – unter ständigem Verscheuchen der Fliegen, die sogar während des Mischens in den Pigmenten landeten –, doch er lernte auch, sich auf dem Schiff nützlich zu machen. Er musste die Resolution bis in alle Ritzen mit Essig ausschrubben und wurde genötigt, das Bettzeug der älteren Matrosen nach Ungeziefer zu durchforsten. Er half dem Schiffsfleischer, Schweine zu pökeln und in Fässern zu lagern, und lernte, das Meerwasser-Destillationsgerät zu bedienen. Er lernte auch, die eigene Kotze zu schlucken, anstatt sich die Seekrankheit zur Freude aller Anwesenden anmerken zu lassen. Er überstand Stürme, ohne vor irgendwem Angst zu zeigen. Er aß Haie, und er aß die halb verdauten Fische in den Haibäuchen. Er sah einen älteren Mann, einen erfahrenen Matrosen, über Bord gehen und ertrinken und ein paar andere Männer an Infektionen sterben, doch Henry blieb am Leben.
    Er landete in Madeira, in Teneriffa und in der Tafelbucht. Am Kap begegneten ihm zum ersten Mal Vertreter der Niederländischen Ostindien-Kompanie, deren Ernsthaftigkeit, Kompetenz und Reichtum ihn beeindruckten. Er sah Matrosen ihre Heuer an Kartentischen verlieren. Er sah Leute, die sich Geld liehen – bei Niederländern, die offenbar selbst nicht spielten. Auch Henry spielte nicht um Geld. Er sah, wie ein Matrose seines Schiffes, ein Möchtegern-Münzfälscher, erwischt und für sein Verbrechen bis zur Bewusstlosigkeit ausgepeitscht wurde – auf Kapitän Cooks Befehl. Er selbst beging keine Verbrechen. Als sie bei eisigem Wind das Kap umrundeten, zitterte er nachts unter der dünnen Decke, und seine Zähne klapperten so sehr, dass ihm einer herausbrach, doch er klagte nicht. Das Weihnachtsfest beging er auf einer bitterkalten Insel mit Seelöwen und Pinguinen.
    Er landete in Tasmanien und sah nackte Eingeborene – »Indianer«, wie die Briten sie und alle kupferfarbigen Menschen nannten. Er sah, wie Kapitän Cook den Indianern zur Feier dieser historischen Begegnung Gedenkmünzen mit dem Porträt von George III. und dem Datum der Expedition gab. Er sah, wie die Indianer sofort auf die Münzen einhämmerten und sie in Angelhaken und Speerspitzen verwandelten. Er verlor noch einen Zahn. Er sah, dass die englischen Matrosen dem Leben eines wilden Indianers keinerlei Wert beimaßen, und er sah, dass Cook vergeblich versuchte, es ihnen beizubringen. Er sah, wie sich Matrosen den Frauen aufzwangen, wenn sie diese nicht beschwatzen konnten, oder die Frauen beschwatzten, wenn sie sich diese nicht leisten konnten, oder wie sie den Vätern die Mädchen einfach abkauften, wenn sie nur etwas Eisen besaßen, das sie gegen Menschenware eintauschen konnten. Er selbst mied alle Mädchen.
    Er verbrachte lange Tage an Bord, wo er Mr Nelson beim Zeichnen, Beschreiben, Präparieren und Klassifizieren der botanischen Funde half. Er empfand keine besondere Zuneigung zu Mr Nelson, doch er wollte alles lernen, was dieser schon wusste.
    Er landete in Neuseeland, wo es genauso aussah wie in England, bis auf die tätowierten Mädchen, die man für eine Handvoll Nägel kaufen konnte. Er kaufte keine Mädchen. In Neuseeland sah er, wie die Matrosen seines Schiffes einem Vater zwei kräftige, willige Brüder im Alter von zehn und fünfzehn Jahren abkauften. Die eingeborenen Knaben schlossen sich der Expedition als Arbeitskräfte an. Freiwillig, wie sie durchblicken ließen. Doch

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