Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
fortgeschleppt. Später in der Nacht erfolgte die endgültige Demütigung: Von einem Kanu aus schleuderte ein Indianer einen Teil von Kapitän Cooks Oberschenkel auf die Resolution .
Henry sah, wie die englischen Seeleute zur Vergeltung die gesamte Siedlung niederbrannten. Sie ließen sich nur mit Mühe davon abhalten, alle Indianer der Insel – Männer, Frauen und Kinder – umzubringen. Die Köpfe zweier Indianer wurden aufgespießt – und dies sei nur der Anfang, verkündeten die Seeleute, es sei denn, Kapitän Cooks Leiche werde zurückgegeben, damit man ihn anständig beisetzen könne. Am nächsten Tag trafen die Reste von Cooks Leiche auf der Resolution ein, bis auf Wirbelsäule und Füße, die nie geborgen wurden. Henry sah, wie die sterblichen Überreste seines Kapitäns zur See bestattet wurden. Kapitän Cook hatte niemals auch nur ein Wort an Henry gerichtet, und Henry hatte Cooks Blick stets gemieden. Doch nun lebte Henry Whittaker, und Kapitän Cook war tot.
Er dachte, im Anschluss an dieses Desaster würden sie vielleicht nach England zurückkehren, doch das taten sie nicht. Ein Mann namens Mr Clark wurde Kapitän. Ihre Mission war noch nicht erfüllt, es galt nochmals, die Nordwestpassage zu finden. Als der Sommer zurückkehrte, segelten sie wieder nordwärts, hinein in die schreckliche Kälte. Aus einem Vulkan prasselten Asche und Bimsstein auf ihn nieder. Alles frische Gemüse war längst verzehrt, und sie tranken brackiges Wasser. Haie folgten dem Schiff, um sich am Abwasser der Latrinen zu laben. Henry und Mr Nelson erfassten elf neue Spezies von Polarenten und aßen neun davon. Henry sah einen riesigen weißen Bären hinter dem Schiff herschwimmen, träge paddelnd wie eine fortwährende Drohung. Er sah Indianer, die sich an kleinen, fellbedeckten Kanus festbanden und sie durch die Fluten steuerten, als wären Mensch und Boot zu einem Tier verschmolzen. Er sah Indianer von Hunden gezogen übers Eis gleiten. Er sah, wie Kapitän Cooks Nachfolger – Kapitän Clark – im Alter von achtunddreißig Jahren starb und zur See bestattet wurde.
Nun hatte Henry zwei englische Kapitäne überlebt.
Wieder gaben sie die Nordwestpassage auf. Sie segelten nach Macao. Er sah Geschwader von chinesischen Dschunken und begegnete nochmals Vertretern der Niederländischen Ostindien-Kompanie, die in ihrer schlichten schwarzen Kleidung und ihren einfachen Holzschuhen allgegenwärtig zu sein schienen. Er gewann den Eindruck, dass überall in der Welt irgendjemand einem Holländer Geld schuldete. In China erfuhr Henry von einem Krieg mit Frankreich und einer Revolution in Amerika. Es war das erste Mal, dass er davon hörte. In Manila sah er eine spanische Galeone, beladen mit einem Silberschatz im Wert von angeblich zwei Millionen Pfund. Er tauschte seine Schneeschuhe gegen eine spanische Marinejacke ein. Er erkrankte wie alle an der Ruhr, doch er überlebte. Er erreichte Sumatra und danach Java, wo er nochmals einen Holländer sah, der Geld verdiente. Das nahm er zur Kenntnis.
Ein letztes Mal umrundeten sie das Kap und hielten wieder Kurs auf England. Am 6. Oktober 1780 hatten sie Deptford heil erreicht. Henry war vier Jahre, drei Monate und zwei Tage fort gewesen. Er war nun ein junger Mann von zwanzig Jahren. Während der gesamten Reise hatte er sich gut bewährt. Wie ein Gentleman. Er hoffte und erwartete, dass man genau dies über ihn berichten würde. Er war auch weisungsgemäß ein eifriger Beobachter und botanischer Sammler gewesen und nun bereit, Sir Joseph Banks seinen Bericht kundzutun.
Er verließ das Schiff, bekam seinen Lohn, fand eine Mitfahrgelegenheit nach London. Die Stadt war schmutzig und grauenerregend. 1780 war für England ein fürchterliches Jahr gewesen – Aufruhr, Gewalt, antipäpstlicher Fanatismus, das Haus von Lord Mansfield niedergebrannt, dem Erzbischof von York auf offener Straße die Ärmel abgerissen und ins Gesicht geschleudert, gewaltsam geöffnete Gefängnisse, Ausnahmezustand –, doch Henry wusste von alldem nichts und kümmerte sich nicht darum. Er marschierte schnurstracks zum Soho Square 32, Banks’ Privathaus. Henry klopfte an die Tür und nannte seinen Namen, bereit, seine Belohnung entgegenzunehmen.
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Banks schickte ihn nach Peru.
Dies sollte Henrys Belohnung sein.
Sir Joseph Banks war einigermaßen sprachlos, als Henry Whittaker vor seiner Tür stand. Im Laufe der Jahre hatte er den Jungen nicht nur aus den Augen, sondern auch mehr oder weniger aus dem
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