Das Wesen. Psychothriller
geworden, fast genau zwei Jahre älter als sie selbst.
Nina nippte an dem Kaffee und überlegte, ob sie Dirk am Samstag schon um viertel vor neun anrufen und ihm einen guten Morgen wünschen konnte. An den Tagen, an denen er nicht zur Uni musste, konnte er ohne Probleme bis mittags im Bett liegen bleiben. Manchmal, wenn sie zusammen übernachteten, zog er sie auf die Matratze zurück, wenn sie aufstehen wollte. Sie schmunzelte. Ein paar Vorlesungen hatte sie schon verpasst.
Nina beschloss, dass der Tag viel zu schön war, um ihn halb zu verschlafen, und ging hinein. Der Telefonhörer lag auf dem weißen Couchtisch. Sie wählte Dirks Nummer und legte sich mit schräg angezogenen Beinen auf die Zweiercouch, wo sie geduldig dem monotonen Tuten zuhörte. Dabei stellte sie sich vor, wie Dirk sich das Kissen auf die Ohren presste, um weiterschlafen zu können. Umso überraschter war sie, als er sich mit einem sehr ausgeschlafen klingenden »Dirk Schäfer, hallo«, meldete.
»Guten Morgen«, sagte sie lächelnd, »du klingst sehr fit für diese Uhrzeit. Ich sollte dich wohl öfter abends alleine einschlafen lassen.«
»Auf keinen Fall. Ich bin nur so früh aufgestanden, weil ich eh die ganze Nacht nicht schlafen konnte.«
»Wegen der Party heute?«
»Wegen Einsamkeit, o du innig geliebtes Wesen.«
Sie grinste. »Komm, du bist doch ganz froh, wenn du ab und zu im Bett fernsehen und Chips futtern kannst, gib’s zu.«
»Niemals. Aber sag mal, wolltest du nicht heute mit Kerstin Hamburgs Schuhgeschäfte leer kaufen?«
»Doch, sie holt mi…« Die Türklingel unterbrach sie. Es gab nur einen, der um diese Uhrzeit bei ihr klingelte. »Wart mal kurz … bestimmt der Briefträger.« Nina schwang die Beine von der Couch und ging zur Tür, doch statt des fast immer freundlich lächelnden Dietmar Fuchs stand ein junger Mann in braunem Hemd und brauner Cargo-Hose vor ihr und hielt ihr mit teilnahmsloser Miene ein Päckchen entgegen. Auf seiner Hemdtasche war das Logo von UPS aufgenäht. Dass Nina barfüßig in ihrem blauweiß gestreiften Nachthemd vor ihm stand, schien ihn nicht sonderlich zu überraschen.
»Morgen. Eine Sendung für Sie«, sagte er, ohne dass sich sein Gesichtsausdruck dabei veränderte. Nina legte das Telefon neben sich auf dem Boden ab und nahm ihm das Päckchen aus der Hand. Es hatte etwa die Ausmaße der Amazon-Päckchen, in denen die Bücher ankamen, die sie sich öfter bestellte, und war dick mit braunem Paketband umwickelt. Der Absender auf einem Aufkleber in der linken oberen Ecke war allerdings ein privater:
Peter Dorscher
Selburgring 17
22111 Hamburg
Weder der Name noch die Adresse sagten ihr etwas. Sie klemmte sich das Päckchen zwischen die Knie, nahm den Plastikstift, der seitlich an dem Gerät baumelte, das der UPS -Mann ihr nun entgegenhielt, und krakelte ihre Unterschrift auf das Display, so gut es ging.
Auf dem Weg zum Wohnzimmer hatte sie den Hörer wieder am Ohr. »So, da bin ich wieder.« Sie legte das Päckchen auf dem Couchtisch ab und ging zur Balkontür. »War der Paketdienst, ist wahrscheinlich ein Buch, das ich online erstei–.«
»Du sollst deine Zeit nicht mit Lesen vertrödeln, sondern mit mir verbringen«, fiel Dirk ihr mit nörgelnder Stimme ins Wort.
»Alles zu seiner Zeit, Süßer, du kommst bestimmt nicht zu kurz. Jetzt mache ich mich jedenfalls mal fertig, sonst stehe ich immer noch im Nachthemd hier, wenn Kerstin gleich klingelt.«
»Soll das etwa heißen, du hast dem Kerl gerade im Nachthemd die Tür geöffnet? Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl, Weib?«
»Du Spinner«, antwortete sie lachend. »Ich leg jetzt auf. Tschüss, bis nachher.«
»Na gut, bis später, aber dass mir das nicht nochmal vorkommt, sonst muss ich darauf bestehen, dass du bei mir einziehst, damit ich jeden deiner Schritte kontrollieren kann.« Nina schüttelte den Kopf und beendete das Gespräch.
Es war ein Scherz, aber Dirk hatte sie wenige Wochen zuvor schon einmal gefragt, ob sie sich vorstellen könne, zu ihm zu ziehen. Platz genug war vorhanden, sein Vater hatte ihm zum Studienbeginn die geräumige und bestimmt sündhaft teure Maisonette-Wohnung im Abendrothsweg in Hoheluft-Ost gekauft, unweit des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, wo Dirk Medizin studierte. Schäfer senior war Inhaber einer Firma mit über 100 Angestellten, die Kunststoffteile für die Automobilindustrie herstellte, und das Thema Geld schien in Dirks Familie eine eher untergeordnete Rolle zu
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