Das Wesen. Psychothriller
vergewisserte sich, dass alles mobilisiert wurde, was machbar war. Ich wollte etwas tun, irgendwas, und sagte diese schlimmen
Bestimmt
-Sätze wie ›Ihr ist
bestimmt
nichts passiert‹ und ›Sie hat sich
bestimmt
einfach nur irgendwo versteckt‹ und ›Wenn wir ankommen, ist sie
bestimmt
schon wieder aufgetaucht‹. Mein Partner antwortete nicht darauf, und ich kam mir schrecklich dumm und hilflos vor.
Als wir vor dem verklinkerten Gebäude in der Hermann-Löns-Straße ankamen, war Luisa noch nicht wieder aufgetaucht, dafür waren schon drei Streifenwagen vor Ort. Zwei uniformierte Kollegen, ein junger Kommissar und ein bedeutend älterer Hauptmeister, die ich beide kannte, aber deren Namen mir nicht einfielen, unterhielten sich auf einem kleinen Rasenstück mit einer dunkelhaarigen Frau, die sehr aufgeregt wirkte. Unter den Achseln des kurzärmeligen Hemdes, das der Kommissar trug, hatten sich große Schwitzflecken gebildet, auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Im Hintergrund führte eine jüngere Frau, fast noch ein Teenager, eine Gruppe von vielleicht zwanzig kleinen Kindern aus dem Gebäude. Die Jungen und Mädchen hielten sich dabei an den Händen und bildeten eine Schlange.
Wir waren noch einige Meter entfernt, da rief Menkhoff schon: »Was ist? Ist sie wieder da?« Die Frau schlug sich eine Hand vor den Mund und fing an zu weinen – wie man ihren geröteten Augen ansah, nicht zum ersten Mal in den letzten Minuten. »Herr Menkhoff, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es ist doch immer alles abgeschlossen, wenn –«
»Wo verdammt nochmal waren Sie, als meine Tochter verschwunden ist? Und wo war ihre Betreuerin?«
»Herr Hauptkommissar, Frau Bauer kann sicher nichts dafür«, warf der Kommissar in Uniform ein. »Ich habe nicht Sie gefragt, Herr Kollege«, fuhr Menkhoff ihn an. »Sagen Sie mir nicht, wer was wofür kann. Machen Sie gefälligst Ihren Job und lassen mich meinen tun.« Der junge Mann wurde bleich, ich warf ihm einen entschuldigenden Blick zu.
»Ich … ich war in meinem Büro«, erklärte die Leiterin, »und Gabi, Luisas Betreuerin, war bei ihrer Gruppe, im Igelnest. Die Luisa musste mal zur Toilette, und … und dann … kam sie nicht zurück. Ich verstehe das nicht. Die Eingangstür ist nach halb zehn immer abgeschlossen. Man kann nur … man muss klingeln, um reinzukommen. Und der Griff, also, damit kann man von innen öffnen, aber der ist so hoch angebracht, dass die Kinder nicht drankommen. Wir haben einen Wochenplan, eine von den Erzieherinnen kontrolliert die Türen um halb zehn, das macht diese Woche die Petra, und die sagt, sie ist sicher, dass die Tür verschlossen war.«
»Haben Sie innerhalb des Kindergartens überall nachgesehen? Vielleicht versteckt sie sich irgendwo.«
»Ja, das haben wir getan, bevor ich Sie angerufen habe.«
»Die Kollegen durchsuchen gerade alles noch einmal, Herr Hauptkommissar.« Es war der Mann, den Menkhoff gerade so angeblafft hatte.
»Wann genau ist Luisa zur Toilette gegangen?«, wollte Menkhoff wissen.
»Ich … Gabi ist da drinnen, sie kann Ihnen das besser sagen. Sie ist mit den Nerven völlig am Ende.«
Ohne ein weiteres Wort wandte Menkhoff sich ab, ich folgte ihm zum Eingang der Kita.
Ich versuchte mir vorzustellen, was in diesem Moment in ihm vorging, konnte es aber nicht einmal ansatzweise. Diese Geschichte mit Lichner und Nicole riss alte Wunden wieder auf. Und nun war auch noch seine Tochter verschwunden. Das alles war zumindest sehr seltsam. Hatte Lichner etwas damit zu tun? Aber warum sollte er Menkhoffs Tochter entführen? Aus Rache für damals? Und warum dann gerade zu einem Zeitpunkt, an dem er uns gestanden hatte, dass er selbst die angebliche Entführung seines eigenen Kindes inszeniert hatte? Das ergab alles keinen Sinn. Es sei denn … Lichners Theorie … Nicole. Sie könnte so etwas wieder tun … Ich sah Luisa vor mir, ihre süße Zahnlücke, wenn sie lachte.
Wir fanden die Kindergärtnerin Gabi im Büro der Leiterin. An der Wand neben einem Schreibtisch aus Kiefernholz stand eine kleine blaue Couch, auf der die junge Frau saß und auf den Boden starrte. Sie erhob sich, als wir das Büro betraten, und ich konnte erkennen, dass die Augen hinter den Gläsern ihrer randlosen Brille verquollen und stark gerötet waren. Nervös strich sie sich mit den Händen mehrfach den knielangen Rock an den Seiten glatt, während sie Menkhoff mit ängstlicher Erwartung ansah. Sie tat mir leid, und ich hoffte, dass
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