Das Wesen. Psychothriller
ein.
Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Luisa ist meine Tochter, ich mach das alleine.«
Ich spürte, wie eine heiße Woge durch meinen Körper zog und ein Prickeln auf meiner Stirn hinterließ, das innerhalb einer Sekunde zu einem heftigen Stechen wurde, wie mit tausend Nadeln. »Nein, Bernd, das machst du nicht alleine, verdammte Scheiße!«, schrie ich ihn an. »Diese Sache mit Luisa ist schrecklich, aber deiner Tochter ist nicht damit geholfen, wenn du in diesem Zustand meinst, alles alleine machen zu können. Mann! Du kannst von Glück reden, wenn die Biermann dich nicht komplett von dem Fall abzieht, gerade
weil
es um deine Tochter geht.«
»Die Bie –«
»Und was Lichner und Nicole betrifft – wenn du endlich mal einen objektiven Blick auf die Fakten werfen würdest, könntest du sehen, dass das, was er gesagt hat, absolut plausibel ist. Aber du
willst
es nicht sehen, oder? Du
willst
ihn hassen und für alles verantwortlich machen, was in den letzten 16 Jahren in deinem Leben schiefgelaufen ist, stimmt’s? Es ist zum Kotzen, Bernd, echt!«
Ich sah ihm in die Augen und hörte meinen Atem, und während mein Puls sich nur langsam wieder beruhigte, machte ich mich auf den Wutausbruch meines Kollegen gefasst, ich hätte ihn verstanden. Aber Bernd Menkhoff brüllte nicht zurück. Er weinte. Lautlos, ohne dass die Schulterblätter zuckten. Er saß reglos neben mir auf dem Beifahrersitz, sah mich an und ließ es zu, dass die Tränen über sein Gesicht liefen, sich unterhalb seines Kinns vereinigten und von dort als dicke Tropfen auf sein Hemd fielen.
Ich beugte mich zu ihm hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Mensch, Bernd …«, meine Stimme war leise und hörte sich für mich selbst an, als wäre ich erkältet, »tut mir leid, dass ich dich so angeschrien habe, ich kann dich wirklich verstehen, aber … du weißt es doch selbst. Fass Lichner einmal an, und der Fall wird dir nicht nur auf jeden Fall sofort entzogen, sondern du hast auch noch ein Diszi am Hals. Du weißt es doch. Bernd. Also – wir unterhalten uns beide mit Lichner, einverstanden?«
Er nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Es stimmt sicher einiges von dem, was du gesagt hast, Alex. Aber eben nicht alles. Nicht alles. Komm, gib Gas.«
51
24. Juli 2009, 11.16 h
Lichner machte ein verdutztes Gesicht, als er die Tür öffnete und sich uns schon wieder gegenübersah. Er zeigte ein flüchtiges, lichneruntypisches Lächeln. »Haben Sie was verg –«
»Meine Tochter ist entführt worden, aus dem Kindergarten.«
Lichner riss die Augen auf und stand wie versteinert da, zwei, drei Sekunden lang. Dann sagte er: »Das … das tut mir leid«, und das war so untypisch für ihn, dass ich ihn dafür eine Weile anstarrte. »Ist das … sicher? Ich meine, sind Sie sicher, dass –«
»Wissen Sie was davon?«, fiel ihm Menkhoff ungeduldig ins Wort und machte noch einen Schritt auf ihn zu. Seine Körperhaltung war eine einzige Drohung. »Lichner … Wenn Sie etwas wissen, dann sagen Sie mir sofort, was mit Luisa ist. Wenn meiner Tochter was passiert, bring ich den Verantwortlichen eigenhändig um. Also machen Sie den Mund auf.« Wie schon einige Male zuvor standen sie sich dicht gegenüber, aber jetzt wich Lichner dem Blick meines Partners aus, und ich war fast sicher, dass er etwas darüber wusste, was mit Luisa passiert war. Menkhoff schien es ähnlich zu gehen. Er packte ihn am Hemd, ballte die Hände zu Fäusten und schrie ihn an: »Reden Sie!«
»Was soll das?«, beschwerte sich Lichner. »Lassen Sie mich sofort los!« Mir wurde klar, dass ich dastand wie in einer Statistenrolle. Ich machte einen Schritt auf die beiden zu und drückte sie auseinander, Menkhoff ließ tatsächlich von Lichner ab, der sich fluchend sein Hemd wieder glattzog.
»Zum letzten Mal, Lichner«, sagte Menkhoff gefährlich leise, »wissen Sie, was mit meiner Tochter passiert ist?«
»Nein, ich
weiß
es nicht«, antwortete Lichner. »Aber ich habe eine Ahnung. Hoffentlich täusche ich mich. Mein Gott, damit habe ich nicht gerechnet. Kommen Sie …«
Er machte auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe zu seiner Wohnung hoch, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Wir folgten ihm. In seiner Wohnung ging er geradewegs zu einer kleinen Kommode, auf der ein schnurloses Telefon in der Station stand. Kurze Zeit später legte er den Hörer wieder zur Seite und sagte: »Sie meldet sich nicht.«
»Wer meldet sich nicht?«,
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