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Das Wetter vor 15 Jahren

Das Wetter vor 15 Jahren

Titel: Das Wetter vor 15 Jahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Haas
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Mutter-Gottes-Schacht! Wolf Haas Ihm sind einfach die ganzen von Kindheit an vertrauten Schreckensfakten durch den Kopf geschossen. Alsdorf, 290 Tote. Weddinghofen, 405 Tote. Luisenthal, 299 Tote. Das waren ja überall Wetterexplosionen.
    Literaturbeilage Schlagende Wetter.
    Wolf Haas Schlagwetter, genau. Oder die 300 Toten im Segen-Gottes-und-Neue-Hoffnung-Schacht.
    Literaturbeilage Ach, Segen Gottes, nicht Mutter Gottes, ich bin blöd. Und natürlich immer wieder Dahlbusch und Lengede.
    Wolf Haas Dahlbusch und Lengede natürlich immer wieder wegen der geretteten Bergmänner. Das war die Hoffnung, an die er sich geklammert hat. Er war ja in Wahrheit in einer vollkommen hoffnungslosen Lage! Das kommt im Buch überhaupt nicht rüber, wie hoffnungslos. Durch die Ich-Perspektive. Durch den vorgezogenen Kuss. Man weiß beim Lesen ja, er wird irgendwie davonkommen.
    Literaturbeilage Aber als Leserin ist man doch vor bösen Überraschungen ebenso wenig gefeit wie der Held der Geschichte selbst. Man weiß hier zum Beispiel immer noch nicht, dass Kowalski den am Anfang geschilderten Kuss auf seinen Backenknochen -
    Wolf Haas Einen Zentimeter darunter.
    Literaturbeilage - dass er den Kuss von Anni in der Intensivstation bekommen hat!
    Wolf Haas Intensivstation ist allerdings wesentlich besser als lebendig begraben.
    Literaturbeilage Die Chancen stehen etwas besser.
    Wolf Haas Und man kann schon Küsse kriegen.
    Literaturbeilage Etwas Hoffnung muss er da unten aber doch gehabt haben. Weil er unermüdlich seine Klopfzeichen gab. Das war beim Lesen auch schwer auszuhalten. Dieses dauernde tock tock tock.
    Wolf Haas Für ihn war es schwer auszuhalten, dass keine Antwort gekommen ist.
    Literaturbeilage Er hat auch gleich geahnt, dass niemand nach ihm sucht.
    Wolf Haas Und diese Ahnung ist immer mehr zu einer Gewissheit geworden, je länger keine Hilfe gekommen ist. Nach einem halben Tag hat er endgültig gewusst, dass von außen gar nichts zu sehen war.
    Literaturbeilage Die Bergrettung hätte längst da sein müssen.
    Wolf Haas Es hat ihn niemand klopfen gehört. Das Schmugglerlager liegt ja nicht einmal direkt am Wanderweg, das liegt mindestens zwanzig Meter seitlich. Wo es eben schon so ein bisschen felsig wird. Es war komplett hoffnungslos, dass ihn da jemand zufällig hört. Darum sind ihm ja in den ersten Minuten schockartig all die Unglücksstatistiken seiner Kindheit wieder eingefallen. 103 Tote in Maybach. 290 Tote in Alsdorf. 51 Tote in Stolzenbach. 299 Tote im Schacht Grimberg in Luisenthal. 360 Tote in Hamm. 144 Tote in Merthyr Tydfil, 114 davon Kinder.
    Literaturbeilage Hören Sie bloß auf!
    Wolf Haas Ja, das Aberfan Disaster. Das ist in der Nähe von Swansea, wo ich gewohnt habe.
    Literaturbeilage Sie sind ja fast so besessen davon wie Ihr Protagonist Kowalski!
    Wolf Haas Es ist schon interessant, wie einem in einer Extremsituation solche Sachen wieder einfallen.
    Literaturbeilage Wobei ich besonders interessant finde, dass Sie sagen „Unglücksstatistik seiner Kindheit". Da steckt für mich viel drin. Vielleicht brauchte er ja später seine Wetterstatistik auch als eine Art Gegengift, um die Unglücksstatistik seiner Kindheit zu verdrängen.
    Wolf Haas Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie ihn bezüglich Wetter als Statistiker sehen. Es hat ja in den Kritiken immer geheißen, er sei begeisterter Hobbymeteorologe und so weiter. Aber für mich ist er auch mehr Statistiker als Meteorologe.
    Literaturbeilage Trotz der niederschmetternden Todesstatistiken hat er weitergeklopft.
    Wolf Haas Er hat unermüdlich sein tock tock tock nach oben gesendet. Seine winzige Hoffnung hat sich an die legendären Rettungswunder geklammert. Dahlbusch, wo man die drei Überlebenden aus 850 Metern heraufgeholt hat. Und das im Jahr 1955! Nicht mit den heutigen technischen Möglichkeiten. Siebzig Männer sind in Dahlbusch ums Leben gekommen. Aber drei hat man herausgeholt. Aus 850 Metern!
    Literaturbeilage Und vor allem Lengede, wo elf Männer noch nach vierzehn Tagen gerettet wurden.
    Wolf Haas Da ist übrigens noch einmal die für Dahlbusch entwickelte Bergekabine zum Einsatz gekommen. Die Dahlbusch-Bombe. In Lengede war das Problem, dass man die Klopfzeichen der Verschütteten zuerst nicht gehört hat. Erst nach vierzehn Tagen hat man sie endlich klopfen gehört! Das war 1963. Im Oktober '63 war das. Da gibt es sogar schon TV-Dokumente. Wie die Männer nach vierzehn Tagen gespensterhaft aus der DahlbuschBombe wanken, mit

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