Das Wetter vor 15 Jahren
der Begründung, warum er den Hinweis zuerst übersieht. Finden Sie es würklich so shocking, etwas über die sexuellen Ausschweifungen der eigenen Eltern zu erfahren?
Wolf Haas Ich?
Literaturbeilage Wir wollen hier nicht den Fehler begehen und die Ansichten des Autors mit jenen des Protagonisten gleichsetzen. Aber diese ganze SilbersternchenThematik kommt vielleicht deshalb etwas verklemmt rüber, weil man immer das Gefühl hat, es geht Ihnen eigentlich um was anderes, das Sie nicht aussprechen wollen.
Wolf Haas Hier geht es ja wirklich um was ganz anderes. Und das wird auch deutlich ausgesprochen. Nämlich dass die Schuldgefühle, die ihn und Anni auseinander gebracht haben, nur aus den Geheimnissen ihrer Eltern gebraut waren.
Literaturbeilage Damit war der Rückfall besiegelt.
Wolf Haas Was meinen Sie mit Rückfall?
Literaturbeilage Weil Sie vorhin sagten, Vittorio war clean, seit Anni ihm das Hochzeitskleid gezeigt hat. Wolf Haas Genau, das war natürlich der Megarückfall. Und wie es so ist bei Rückfällen. Jetzt war's schlimmer als je zuvor. Jetzt ist es nicht mehr nur ums Rauskommen gegangen. Sondern ums Rechtzeitig-Rauskommen. Vor der Hochzeit!
Literaturbeilage Und er hatte nur noch zwei Stunden Zeit.
Wolf Haas Er wollte unter allen Umständen verhindern, dass Anni den falschen Mann heiratet. Unter falschen Voraussetzungen. Er wollte ihr unbedingt noch vor der Hochzeit mitteilen, was er aus den Briefen erfahren hat.
Literaturbeilage Aber Anni wusste doch längst, dass ihr Vater damals gar nicht hochgekommen ist, um sie zu retten. Dass ihr Vater über all die Jahre ein Verhältnis mit Frau Kowalski hatte. Es war doch nur für ihn neu. Annis Mutter war ja nicht so verschwiegen gewesen wie seine Mutter.
Wolf Haas Anni hat es schon gewusst! Aber Vittorio hat nicht gewusst, dass sie es wusste. Er hat geglaubt, Anni ist genauso ahnungslos wie er. Er hat sich gedacht, sonst würde sie doch niemals den Lukki heiraten.
Literaturbeilage Eine Art Selbstbestrafung.
Wolf Haas Vielleicht. Jedenfalls hat er gehofft, dass -
Literaturbeilage - dass Anni es sich noch mal überlegt.
Wolf Haas Ja, wenn sie erfährt, dass die ganzen Schuldgefühle umsonst waren.
Literaturbeilage Wobei die Schuldgefühle offenbar nicht nur eine negative Seite haben. Sie schreiben: Während er den morschen Bretterboden unter den verschimmelten Matratzen herausriss, kam ihm der Gedanke, dass er sich in Anni vielleicht nur so verliebt hat, weil sein erster Kuss ihren Vater das Leben kostete.
Wolf Haas Ja, für einen Mann hat das natürlich was.
Literaturbeilage Wenn sein erster Kuss den Vater des Mädchens um die Ecke bringt?
Wolf Haas Das kann man jetzt ruhig pubertär nennen meinetwegen. Sie dürfen nicht vergessen, dass wir hier von einem Pubertierenden reden, wir reden von einem Fünfzehnjährigen.
Literaturbeilage Das schon. Aber man muss ja die Pubertät nicht unbedingt pubertär abhandeln. Womit ich nicht sagen will, dass Sie das tun. Zu alldem ließe sich noch viel sagen, aber ich muss jetzt -
Wolf Haas Ach! Angriff, und dann keine Zeit zur Verteidigung.
Literaturbeilage Sie sind doch derjenige, der es unspannend findet, wenn immer jeder ausreichend zu Wort kommt.
Wolf Haas Interessant.
Literaturbeilage Kommen wir zu der Tatsache, dass seine Mutter ihm nie die Wahrheit gesagt hat. Obwohl sie doch mit angesehen hat, dass ihr Sohn sich nach dem Vorfall ürgendwie eigentümlich entwickelt.
Wolf Haas Das war schon ein Wahnsinn. Die ist erst zwei Jahre vor seinem Fernsehauftritt gestorben und -
Literaturbeilage Der Vater ist schon früher gestorben?
Wolf Haas Ja, der ist schon ein paar Monate nach seinem sechzigsten Geburtstag gestorben. Das ist kein Alter. Und trotzdem ist er doppelt so alt geworden wie sein eigener Vater.
Literaturbeilage Wieso ist der denn so früh gestorben?
Wolf Haas Das hab ich extra nicht ins Buch reingenommen, weil es zu weit geführt hätte. Vittorios Großvater war einer von den 70 Toten in Dahlbusch.
Literaturbeilage Ach darum durfte Vittorios Vater nicht Wettersteiger werden. Jetzt verstehe ich das erst.
Wolf Haas Ja, das Thema hängt ein bisschen in der Luft, das muss ich zugeben. Aber ich hab mich trotzdem entschieden, das draußen zu lassen. Sonst wird man als Leser auch verschüttet sozusagen, mit zu vielen Bezügen.
Literaturbeilage Das find ich aber schade, dass Sie das ausgeklammert haben! Dann würde man seine Bergbausentimentalität ja viel besser verstehen.
Wolf Haas
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