Das Winterkind
Dann fragte ich sie höflich nach Gomera, nach den zwei, drei Freundinnen, die mir ein Begriff waren. Wir redeten und ahnten beide, dass sich hinter unseren leichten, belanglosen Worten viel dunklere und bedrohlichere verbargen. Aber diese düsteren Worte waren Gespenster, die wir nie ans Tageslicht hatten kommen lassen. Ira hatte mir nie erklären können, warum sie mich aus ihrem Leben ausgeschlossen hatte, nachdem Martin gestorben war, ja, warum sie seinen Tod sogar gegen mich verwendet hatte. Hatte ich nicht genug um ihn getrauert? Hätte ich nicht einfach mit meinem Leben weitermachen dürfen? Ich hatte nie eine Antwort darauf gefunden, doch auch ich konnte ihr nicht sagen, dass ich erschöpft und mutlos am See angekommen war und nur noch den Gedanken gehegt hatte, mich umzubringen.
Zwei Spatzen flatterten um uns herum, fast, als würden sie uns anbetteln, ihnen ein wenig Futter zuzuwerfen.
»Zeigst du mir deinen Fischreiher?«, fragte Ira.
Ich nickte, wenngleich ich mir vorgenommen hatte, sie nicht ins Haus zu lassen. Ich hatte mich nicht auf ihren Besuch vorbereitet. Außerdem war ich mir nicht sicher,ob ich die Pistole wieder in meinen Koffer zurückgelegt hatte.
Wir liefen die wenigen Schritte vom Deich zum Haus hinunter. Licht hatte uns schon von weitem gehört, jedenfalls krächzte er laut und energisch. Er war hungrig. Ich hatte ihm heute Morgen lediglich Wasser bereitgestellt, ihm aber seine Ration Fisch vorenthalten.
»Mir war das Haus immer unheimlich«, sagte Ira, als wir das Tor zum Grundstück öffneten. »Es roch so muffig, so sehr nach deinem Vater, als hätte er es nur gebaut, um hier zu sterben. Ist deine Mutter jemals hier gewesen?«
Nein, fiel mir auf, meine Mutter hatte das Haus nie betreten, obwohl er es drei Jahre vor ihrem Tod hatte erbauen lassen.
Licht schien Ira eine Vorstellung davon geben zu wollen, wie sich ein empörter, hungriger Vogel aufführte. Er stieß sein heiseres »Kraik-kraik« aus, hüpfte unruhig in seinem Gehege auf und ab und flatterte mit den Flügeln. Ich hob eine Feder auf, die er verloren hatte, und reichte sie Ira.
»Wann wirst du den Vogel wieder freilassen?«
»Am 24. Dezember«, erwiderte ich, obschon ich mir diese Frage selbst noch gar nicht gestellt hatte, »ganz früh am Morgen, so dass er möglichst lange umherfliegen kann.«
»Und dann wirst du zurückfahren, damit wir Weihnachten zusammen verbringen können?« Ira schaute mich an. Für einen flüchtigen Moment glaubte ich, eine Träne in ihren Augenwinkeln zu sehen, aber es war wohl nur die Kälte, die ihr zusetzte.
»Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass ich das Haus in diesem Jahr noch verlassen werde.«
»Dann war das Gerede von dem Architekten, der dich angeblich erwartet, keine Lüge?«
»Vorhin war es noch eine, doch jetzt ist es keine Lüge mehr. Ich werde in den nächsten Tagen einen Architekten kommen lassen.« Ich spürte, wie schmerzhaft meine Worte für sie klingen mussten. Ich hatte nichts anderes gesagt, als dass unsere Beziehung von diesem Tag an beendet war.
Ira wandte sich ab. Sie machte ein paar Schritte auf das Haus zu, wie eine gewöhnliche Besucherin, die nun erwartete, mit Kaffee und Kuchen bewirtet zu werden. Bevor ich sie anrufen und zurückhalten musste, drehte sie sich wieder um.
»Du hast Recht«, sagte sie, »du solltest wahrscheinlich eine Weile hier allein bleiben. Ich werde nach Weihnachten zurück nach Gomera fliegen. Ich halte die Kälte hier nicht aus und die schlechte Laune, die dieses Land im Griff hält.« Wie ein Abschied klangen ihre Worte nicht, eher wie eine nüchterne Bekanntmachung, doch Ira wandte sich abermals um und schritt am Haus vorbei auf das Tor zu. Ich hörte ihre schnellen, kräftigen Schritte, in denen kein Zögern lag, nicht die Erwartung, dass ich sie zurückhalten würde; ich sah ihren hellen Schatten, wie sie an der Hecke vorbei in Richtung See lief, und dann war sie verschwunden. Die Stille wäre laut und unerträglich gewesen, wenn Licht nicht sofort wieder losgeschrien hätte.
Eine große Leere legte sich über das Haus, als Ira fort war. Ich lief unentwegt vom Fenster zur Tür. So unruhig war ich nicht einmal in meinen ersten Tagen am See gewesen. Niemand kam, nicht Ochs, den ich zu einem Abschiedsbesuch erwartet hatte, auch Hedda nicht. Licht krächzte den Himmel an, sehnsuchtsvoll oder ganz so, als hoffte er, dassirgendjemand, der König der Fischreiher, aus dem weiten Blau heransegeln würde, um ihn zu befreien.
Wenn
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