Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
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Über dem Platz lag erhabenes Schweigen. Er fühlte die Präsenz von Tausenden, doch die Stille der angespannten Erwartung lähmte die Masse. Er massierte seine Finger gegen das taube Gefühl der Kälte, den Blick richtete er konzentriert durch den Sucher. Alles, was seine geschulten Augen wahrnahmen, war vierhundertfach vergrößert. Ihm entging nicht die kleinste Bewegung.
Er rückte einen abstoßend runden Männerkopf mit ungepflegtem Vollbart exakt ins Visier. Für Momente überlegte er abzudrücken, schwenkte aber weiter. Er sah grotesk vergrößerte Zähne und grau durchsetztes Haar. Erneut überlegte er, aber nein, auch hierfür würde es sich nicht lohnen, den Zeigefinger zu krümmen.
Paul Flemming zog den Zoom weiter auf. Jetzt füllten sie alle das Bild im Sucher seiner Kamera: Dicht gedrängt standen seine Kollegen auf einem knapp bemessenen hölzernen Podest, verpackt in klobige Mäntel und Fellmützen, gezuckert mit feinstem Puderschnee. Paul lächelte. Ausnahmsweise beneidete er die anderen heute nicht. Er rieb sich weiter die klammen Hände und feixte still: Was nutzten ihnen ihre gut bezahlten Zeitungs- und Fernsehjobs, wenn sie sich bei der lausigen Kälte die Beine in den Bauch stehen mussten und dazu verdammt waren, das Motiv alle aus derselben langweiligen Perspektive abzulichten?
Diesmal hatte Paul die besseren Karten gezogen. Das Motiv stand unmittelbar neben ihm – und bedachte ihn mit einem unfreundlichen Blick.
»Was will der denn hier?«
»Der will Fotos machen«, sagte Paul, wobei er bewusst die dritte Person beibehielt.
»Das war nicht ausgemacht«, beharrte das zierliche Mädchen im goldenen Gewand, während es sich die üppig gelockte Perücke zurechtrückte.
»Ich fotografiere im offiziellen Auftrag des Amtes für Hotelwesen und Fremdenverkehr«, sagte Paul ruhig, weil er sich denken konnte, unter was für einer Anspannung das Nürnberger Christkind an diesem Abend stand.
Das Mädchen nickte verhuscht, lehnte sich über die steinerne Brüstung der Frauenkirche und warf einen verstohlenen Blick nach unten. Der Hauptmarkt war gestopft voll. So voll, dass von der Empore aus kein einziger Pflasterstein mehr zu sehen war. Die Menschen, die sich zwischen Glühwein-, Bratwurst- und Zwetschgen-Männlein-Buden quetschten und ihre Hälse in Richtung Kirche verrenkten, standen auf Tuchfühlung nebeneinander.
»Es wird Zeit«, sagte eine unauffällige, grauhaarige Frau, die dem Christkind nicht von der Seite wich. Paul wischte eine Schneeflocke von der Linse seines Objektivs. Er zuckte zurück, als er hinter seinem Rücken ein lautes Rascheln hörte. Zwei Mädchen, kleiner und jünger als das Christkind, zwängten sich an ihm vorbei. Die Rauschgoldengel.
Unten auf dem Hauptmarkt gingen die Lampen aus, und ein Raunen stieg zu ihnen herauf. Starke Scheinwerfer tauchten plötzlich den Balkon der Kirche in grelles Licht. Die Begleiterin des Christkindes deutete auf eine hölzerne Stufe.
»Was?«, fauchte das Christkind und kniff, von den Scheinwerfern geblendet, die Augen zusammen. »Das war nicht ausgemacht!«
Ihr Wortschatz ist begrenzt, dachte Paul.
»Ich steige da nicht drauf. Bei der Probe war die blöde Treppe nicht da. Ich steige da nicht drauf.«
Tust du doch, dachte Paul. Haben vor dir auch alle anderen Christkinder gemacht. Er wusste um den Trick, die Mädchen erst bei der feierlichen Eröffnung des Christkindlesmarktes damit zu konfrontieren, dass sie ohne den Schutz der Brüstung in gut zehn Metern Höhe über dem Platz thronten und ihren Prolog halten würden. Zwei Arbeiter von den Städtischen Bühnen legten dem Christkind einen Gurt um, schlugen hastig das Kleid darüber und traten zurück in den Schatten. Die ständige Begleiterin drängte das Mädchen mit dezentem Druck auf die Treppe. Dann folgten die beiden Rauschgoldengel.
»Mein Gott, mir wird schlecht«, raunte einer der beiden kleinen Engel.
»Reiß dich zusammen, und kotz mir bloß nicht aufs Kleid!«, zischte das Christkind.
Paul fotografierte. Gnädige Fotos. Er drückte erst ab, wenn sich die Gesichter der Himmelsgeschöpfe wieder entkrampft hatten. Paul verstand sich als disziplinierter Arbeiter. Er war Werbefotograf, kein Enthüllungsjournalist.
»Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder wart, ihr Kleinen am Beginn der Lebensfahrt, ein jeder, der sich heute freut und morgen wieder plagt: hört alle zu, was euch das Christkind sagt!« Die Stimme des Mädchens hallte um viele hundert Watt verstärkt
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