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Das Winterkind

Das Winterkind

Titel: Das Winterkind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Rohn
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alter Viehhändler, den nichts aus der Ruhe bringen konnte. »Ein stolzer Preis«, sagte er mit nachdenklicher Stimme, »aber durchaus eine Überlegung wert.«
    Wenn einer wusste, was solche Markennamen wirklich wert waren, dann ein raffinierter Geschäftsmann wie Grashoff.
    »Denken Sie darüber nach«, erklärte ich, während ich mich schon erhob. »Bis zum Ende des Jahres gebe ich Ihnen Zeit. Dann werde ich mich an andere mögliche Interessenten wenden, und der Preis könnte beträchtlich steigen.«
    Ich reichte Grashoff die Hand, ignorierte Ira und denjungen Borger und schritt aus dem Zimmer. Unsere Unterredung hatte keine zehn Minuten gedauert. Ochs hatte es sich neben der Tür auf einem Stuhl bequem gemacht. Er schaute beklommen auf. So bald hatte er mich nicht zurückerwartet. Er öffnete schon den Mund, doch dann bemerkte er, dass auch Ira den Raum verlassen hatte.
    Ich kannte sie noch immer gut genug, um zu wissen, dass sie mir wie ein Racheengel nachjagen würde.
    »Was soll das?«, fragte sie mit eisiger und zugleich ratloser Stimme. Solche Überraschungen liebte sie nicht; schon gar nicht, wenn sie früh aufgestanden war und in einem Hotel hocken musste, das nicht ihren Ansprüchen entsprach.
    Ich drehte mich langsam um. Als ich sie anschaute, wusste ich plötzlich wieder, warum ich mich vor fast dreißig Jahren in sie verliebt hatte. Es war nicht ihre tadellose Figur gewesen, nicht ihre fast milchweiße Haut oder die Tatsache, dass sie eine ehrgeizige, intelligente Kunststudentin gewesen war. Ich hatte mich einzig und allein in die Schönheit ihrer Augen verliebt. Mit »mandelförmig« waren sie nur unzureichend beschrieben, obgleich sie wahrhaftig so aussahen, als wäre Iras Mutter oder zumindest ihre Großmutter eine weise, heitere Chinesin gewesen.
    »Heute ist der 20. Dezember«, sagte ich, »und ich habe beschlossen, für eine Weile am See zu bleiben. Auf keinen Fall werde ich in die Fabrik zurückkehren und für den alten Grashoff und seine Leute den Handlanger spielen.«
    »Und was ist mit mir?« Ira breitete die Arme aus, wie eine Schauspielerin, die zeigen wollte, wie klein und wehrlos sie war.
    »Gomera ist doch eine schöne Insel«, erwiderte ich; es klang brutaler, als ich es beabsichtigt hatte.
    Ich zog mir meinen Mantel an und sah, dass Ira mir nach draußen folgte. Die Sonne war über dem Dorf aufgegangen; malerisch hob sich die Kirche gegen den blauen Himmel ab. Ein Anblick wie eine Postkarte.
    »Wir können zum See gehen«, sagte ich zu ihr. »Der See wird dir gefallen.« Dabei kannte sie die Gegend hier längst. Sie hatte meinen Vater viel häufiger besucht als ich.
    Ira hakte sich wortlos bei mir ein. Wie ein versöhntes, älteres Ehepaar überquerten wir die Straße, gingen am erleuchteten Weihnachtsbaum und am Friedhof vorbei, und dann entdeckte ich Hedda. Sie stand in ihrer offenen Tür, als hätte sie gerade auf den Vorplatz treten wollen; sie hielt einen braunen Karton unter dem Arm, doch sie bewegte sich nicht weiter, sondern schaute wie erstarrt zu mir herüber. Ließ die Unsicherheit, mich neben einer fremden Frau zu sehen, sie zögern? Konnte sie mich auf die Entfernung überhaupt erkennen? Ich war mir nicht sicher, bis Hedda ihre linke Hand hob und winkte. Ich winkte zurück.
    »Wer ist das?«, fragte Ira. Natürlich hatte sie Hedda längst registriert.
    »Diese Frau ist die Pastorin des Ortes«, entgegnete ich. »Wir kennen uns.«
    Ira runzelte die Stirn. Meine Antwort gefiel ihr nicht, besonders mein kleiner Nachsatz erweckte ihren Argwohn. Eifersucht hatte nie zu ihren Charaktereigenschaften gehört; dazu hatte sie immer viel zu sehr darauf geachtet, ihre eigene Welt zu besitzen, zu der ich keinen Zugang hatte.
    Wie eine riesige, mit vielen Rissen übersäte Glasscherbe lag der See vor uns und blinkte im Sonnenlicht. Ein paar Enten liefen auf dem Eis umher oder hockten da und sonnten sich, obgleich es hier durch den frischen Windnoch kälter war als im Dorf. Ira schob sich ein wenig an mich heran.
    »Du hast dich verändert«, sagte sie. »Bist schweigsamer, aber konzentrierter als sonst. Außerdem hat man mir im Hotel erzählt, dass du unter die Tierpfleger gegangen bist und dir einen Fischreiher hältst.«
    Sie versuchte einen Umweg zu nehmen, wollte erst ein wenig plaudern, um dann herauszufinden, was ich wirklich vorhatte.
    Ich tat ihr den Gefallen, erzählte ihr von Licht, ohne seinen Namen zu nennen, und von dem schießwütigen Tankwart, den ich überführt hatte.

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