Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
Vom Netzwerk:
ungewöhnlich, dass Sie sich als meine Assistentin bewerben, mir aber keine akademischen Zeugnisse vorlegen.«
    Â»Sie können mich gerne abfragen«, erwiderte Astarte. »Sie werden feststellen, dass ich den aktuellen Stand der Forschung durchaus kenne.«
    Â»Wenn Sie damit die Linguistik meinen, will ich Ihnen das wohl glauben. Aber was wissen Sie über die Neurologie? Die Philosophie? Die Evolutionsbiologie?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Das, was man so weiß, wenn man die laufenden Diskussionen verfolgt.« Sie beugte sich vor. »Vielleicht erklären Sie mir einfach, worum es bei dieser Tätigkeit geht, und ich werde Ihnen verraten, ob ich mir das zutraue.«
    Â»Das ist in höchstem Maße irregulär, Frau Apostolidis.« Viktor sah sie wieder mit diesem merkwürdigen Ausdruck an. »Andererseits muss ich Ihnen beipflichten, dass Zeugnisse und Benotungen nicht viel über die tatsächliche Qualifikation eines Menschen aussagen. Das habe ich leider schon mehrfach erfahren müssen.«
    Astarte atmete erleichtert aus. Ihre Vermutung, dass er empfänglich dafür sein würde, wenn sie ihren Außenseiterstatus unterstrich, hatte sich als richtig erwiesen. Vorerst.
    Sie hatte sich für diese Strategie entschieden, weil Viktor Vau selbst auch ein Außenseiter war. Sein Fachgebiet war ursprünglich die kognitive Neurolinguistik, doch er hatte sich schon früh von den akademischen Zwängen der Disziplin befreit. Anstatt eine Professur an einer renommierten Universität anzutreten, hatte er sich für das Leben als Privatgelehrter entschieden und verfolgte seine Studien jetzt unabhängig von Forschungsgeldern und Trends.
    Seit seinem Abschied vom akademischen Leben hatte er nicht mehr publiziert. Auch das war seinen ehemaligen Kollegen verdächtig, die mit einem ständigen Strom von Veröffentlichungen immer wieder ihre eigene wissenschaftliche Bedeutung unter Beweis stellen mussten.
    Â»Ich fürchte, um Ihnen Ihre Aufgabe zu erläutern, muss ich ein bisschen weiter ausholen. Ich hoffe, Sie haben genügend Zeit mitgebracht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Viktor fort: »Unsere Gehirne sind komplexe Computer. Sie verschlingen den größten Teil der Energie, den unser Körper aus den ihm zugeführten Nahrungsmitteln gewinnt. Zum Beispiel verbraucht unser Gehirn vierzig Prozent des Zuckers, den wir zu uns nehmen. Bei einem Reptil gibt sich die gallertige Masse mit knapp zehn Prozent zufrieden. Noch weiß niemand, wie dieser Computer wirklich funktioniert. Tausende Forscher in aller Welt beugen sich jeden Tag über die aufgeschnittenen Gehirne von Menschen und Tieren, führen Sonden ein, durch die sie kleine Kameras tief in das Innere des Cortex schieben, legen den Sehnerv von Katzen frei und messen, welche Neuronen reagieren, wenn einem Auge ein Reiz präsentiert wird. Sie vermessen Hirnareale und Nervenbahnen, sie wiegen und kartieren, und durch die Hintertür schaffen die Assistenten und Hausmeister im Dunkeln unauffällig die Tierleichen davon, eingewickelt in Plastiktüten, notdürftig zusammengenäht, damit sie nicht allzu amorph aussehen. Und aus der Vordertür heraus karren sie die menschlichen Opfer, die den Rest ihres Lebens in Irrenhäusern verbringen dürfen.
    Dabei wissen die besten Hirnforscher inzwischen, dass die Vermessung der Hardware nur ein kleiner erster Schritt ist, das Phänomen zu verstehen. Viel wichtiger ist die Software, das Betriebssystem. Das Operating System. Das OS .«
    Viktor sah seine Besucherin erwartungsvoll an. Offenbar war dies eine Stelle in seinen Ausführungen, an der er üblicherweise mit Widerspruch rechnete.
    Astarte tat ihm den Gefallen. »Die Bezeichnung des Gehirns als Computer ist doch nur eine Metapher. Sowohl die Komplexität als auch die Funktionsweise des Gehirns verbieten einen direkten Vergleich. An dieser falschen Annahme ist doch die Disziplin der Künstlichen Intelligenz gescheitert.«
    Viktor lächelte zufrieden. Seine Antwort kam ohne jedes Zögern.
    Â»Die Künstliche Intelligenz ist daran gescheitert, dass sie das Gehirn für einen Computer des Baujahres 1960 gehalten hat und zum Teil immer noch hält. Hätte sie mit dem Modell eines Quantencomputers gearbeitet, den es damals natürlich noch nicht gab, wäre sie heute viel weiter. Aber Sie haben recht: Man darf es sich nicht zu einfach machen. Kennen Sie die

Weitere Kostenlose Bücher