Das Wörterbuch des Viktor Vau
Arbeiten von Diggins und Butler?«
Astarte nickte. »Selbstverständlich. Sie haben den untrennbaren Zusammenhang zwischen Physis und Psyche bewiesen. Das heiÃt, dass es keine Intelligenz und kein Bewusstsein ohne Körper geben kann.«
»Korrekt. Es war anfangs einer der groÃen Irrtümer der Künstlichen Intelligenz, nach reinen Softwarelösungen zu suchen. Nachdem sie einsahen, dass das nicht funktionierte, versuchten sie sich an Robotern, künstlichen Körpern. Aber auch das war zum Scheitern verurteilt. Menschliches Bewusstsein gibt es nur mit einem menschlichen Körper oder, besser gesagt, mit einem menschlichen Gehirn.«
»Also lässt sich Bewusstsein auch nur an einem menschlichen Gehirn erforschen«, warf Astarte ein.
»Und dies ist ein ausgesprochen schwieriges Unterfangen, denn bislang steht dafür zumeist nur die Methode der Introspektion zur Verfügung. Eine Versuchsperson muss darüber berichten, was sie empfindet, und allein dieser Bericht ist schon durch ihre sprachlichen Fähigkeiten und ihre subjektiven Erfahrungen gefärbt.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Ihrer Meinung nach eine Erforschung des Bewusstseins unmöglich ist?«
»Ganz und gar nicht. Ich glaube nur, dass wir neue Wege beschreiten müssen, wenn wir dahinterkommen wollen, was in unseren Hirnen wirklich passiert. Und dazu benötigen wir die Sprache. Allerdings eine Sprache, die völlig anders ist als die, welche wir zurzeit sprechen.«
»Weil alle gesprochenen Sprachen zu ungenau sind?«
»Exakt. Es ist seit jeher eines der groÃen Probleme der Wissenschaften, dass wir in einer Sprache gefangen sind, die nur unzureichend in der Lage ist, die Wirklichkeit detailgetreu wiederzugeben. Das beginnt bei einfachen Alltagsbegriffen. Nehmen wir das Wort Amsel. Was ist damit gemeint? Eine männliche Amsel, eine weibliche Amsel oder ein Amselküken? Und was bedeutet der Satz âºSiehst du die Amsel dort?â¹? Wo ist dort ? Sitzt die Amsel oder fliegt sie? All das kann unsere Sprache nicht erfassen.«
»Da bin ich anderer Ansicht«, widersprach Astarte. »Ich kann den Satz ja entsprechend ergänzen: âºSiehst du die männliche Amsel dort, die sich auf dem Baumstumpf am Zaun das Gefieder putzt?â¹ Damit habe ich alles gesagt, was Sie vermissen.«
»Das glauben Sie.« Viktor Vau erhob sich und lehnte sich gegen die Kommode. »Welchen Zaun meinen Sie? Den hohen oder den niedrigen? Und welchen Baumstumpf? Und überhaupt, von welcher Baumart ist der Stumpf? War das mal eine Eiche oder Buche? Sie müssten unendlich viele Informationen an Ihren Satz anhängen, um diese einfache Szene tatsächlich präzise zu beschreiben.«
»Das ist wohl wahr«, räumte Astarte ein. »Aber ist es nicht viel ökonomischer, als sich ein eigenes Wort für jeden möglichen Zustand zu merken?«
»Das hängt von der Sprache ab, die Sie verwenden. Wenn Sie es wie die Chinesen machen, benötigen Sie unendlich viele Wörter. Aber es gibt auch einen anderen Weg.«
Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, bückte sich und stellte eine dünne Aktentasche auf die Platte, aus der er ein abgegriffenes Notizbuch hervorzog. Es war in schwarzes Leder gebunden, oben und unten mit Nieten beschlagen und wurde von einem ausgeleierten Gummiband zusammengehalten. »Ich habe eine Sprache mit einer begrenzten Anzahl Elementen entwickelt, die sich beliebig miteinander kombinieren lassen und mit deren Hilfe ich jede Situation exakt beschreiben kann.«
Astarte kannte die Geschichte. Vau hatte bereits während seiner Assistenzzeit an der Universität mehrere Fachaufsätze zur perfekten Sprache verfasst, die von seinen Kollegen nahezu einhellig verlacht worden waren. Angeblich hatten diese Reaktionen auf seine Forschung nicht unwesentlich zu seiner Entscheidung beigetragen, die Hochschule zu verlassen.
»Wollen Sie mir erklären, dass Sie Ihre exakte Sprache komplett in diesem Büchlein untergebracht haben?«
Viktor Vau nickte. »Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, dass man, wenn man es richtig macht, den Wortschatz klein halten kann. Dies ist das vollständige Wörterbuch von Katlan, der ersten kategoriebasierten Sprache der Welt.«
4.
Astarte streckte die Hand aus. »Darf ich mal sehen?«
»Ein anderes Mal vielleicht.« Vau lieà das Wörterbuch zurück in die Tasche gleiten und warf einen Blick
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