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Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Titel: Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Punkte, die an der aufgerissenen Seite des Hauses umherwirbelten. Ein Vogelschwarm, dachte sie im ersten Moment. Dann erkannte sie die Wahrheit.
    Bücher.
    Cesare Spinis Bücher, die er über Jahrzehnte hinweg gesammelt und in seinem Haus gehortet hatte. Uralte Schriften, die auf der Wolkeninsel verboten waren. Auch um ihretwillen hatte sich Cesare mit seinem Sohn Niccolo so weit draußen, fernab der Ortschaft angesiedelt.
    Jetzt flatterten und schwirrten sie wie ein Pulk wild gewordener Sperlinge. Das Erstaunlichste daran war, dass nur wenige in die Tiefe stürzten. Die meisten wurden von den heftigen Aufwinden gepackt und umhergeschleudert, aus dem zerstörten Haus, dann wieder hinein, ein bizarrer Luftwirbel, wie es sie an den Rändern der Wolkeninsel immer wieder gab.
    So gebannt starrte Alessia vom Rücken des Pferdes auf den wilden Bücherschwarm, dass sie den Mann, der jetzt aus dem Eingang der Ruine trat, beinahe zu spät entdeckte. Ihr blieb keine Zeit, eine Deckung zu finden, und so blieb sie reglos sitzen, flehte in Gedanken das Pferd an, nur ja keinen Huf zu heben oder gar zu schnauben, und blickte abwartend auf die Gestalt vor dem Haus.
    Im fahlen Schein der Öllampe, die der Mann am Boden absetzte, konnte sie kein Gesicht ausmachen. Wohl aber erkannte sie den weiten schwarzen Mantel und die Kapuze, die der Wind so weit aufbauschte, als sei der Schädel darunter zu monströsen Ausmaßen angewachsen.
    Oddantonio Carpi. Der Schattendeuter.
    Rund zwanzig Meter trennten sie voneinander. Alessia hätte ihr Pferd herumreißen und davongaloppieren können; zu Fuß hätte Carpi sie niemals eingeholt. Und doch blieb sie stehen, erstarrt vor Schreck, aber auch unfähig, ihren Hass auf ihn unter Kontrolle zu bringen und das einzig Vernünftige zu tun: die Flucht zu ergreifen.
    Er hatte sie nicht bemerkt. Blickte nicht einmal in ihre Richtung. Stattdessen schaute er zum Berg hinauf.
    Nein, daran vorbei - zum Mond. Es sah aus, als fiele ein besonders heller Lichtstrahl auf die Stelle, an der er stand. Carpi zog die Kapuze zurück und nun sah sein Gesicht beinahe weiß aus, wie eingefroren.
    Hinter ihm gähnte der schwarze Umriss der Tür. Aus dem Inneren drang das Flattern von Papierseiten, die der Wind mit aberwitziger Geschwindigkeit umblätterte.
    Das Pferd ruckte ungeduldig mit dem Kopf hoch und stieß einen Laut aus. Ehe der Schattendeuter reagieren konnte, lag Alessias Hand am Dolch.
    Aber Carpi bewegte sich noch immer nicht. Er musste das Tier gehört haben. So groß war die Entfernung nicht. Warum drehte er sich dann nicht zu Alessia um?
    Das Mondlicht meißelte ihn aus den Schatten wie eine Skulptur aus Glas. Selbst sein schwarzer Mantel schien alle Färbung zu verlieren, war nun kaum mehr grau, fast weiß. Er hatte die Augen geschlossen. Langsam begann er sich vor und zurück zu wiegen, während seine Lippen sich bewegten, ohne dass ein einziges Wort an Alessias Ohren drang.
    Vorsichtig trieb sie das Pferd mit den Fersen an, ließ es langsam vorwärtstraben, nur wenige Meter von der Wolkenkante entfernt. Sie näherte sich dem Haus und befand sich jetzt schräg hinter Carpi. Sie war sich der Gefahr durchaus bewusst, so nah am Abgrund. Doch falls er sie wirklich noch nicht bemerkt hatte, war sie in seinem Rücken im Vorteil.
    Stumm ließ sie das Pferd anhalten und glitt mit zusammengebissenen Zähnen aus dem Sattel. Jäher Schmerz raste an ihrem linken Bein empor, als sie es aufsetzte. Nicht allzu weit von Carpi entfernt sah sie die Überreste des Windmühlenrades, das sich beim Absturz der Wolkeninsel gelöst hatte und bis hierher gerollt war. Vielleicht wäre es besser gewesen, dahinter Deckung zu suchen. Aber dazu war es zu spät.
    Der Schattendeuter badete weiter im Mondlicht, stand schwankend da wie in Trance, während der knochenweiße Schein ihn wie ein Spinnenkokon umgab, Lichtfäden, die ihn festhielten - und lenkten.
    Plötzlich verstand sie. Was sie da vor sich sah, musste so etwas wie ein Zwiegespräch zwischen Carpi und dem Aether sein. Eine Verbindung. Sie hätte nicht erklären können, wie es geschah, aber dass es geschah, bezweifelte sie nicht. Ihre beiden größten Feinde - der eine ein Mensch, der andere, ja, was eigentlich? - tauschten etwas aus. Befehle, wahrscheinlich.
    War sie zuvor noch unsicher gewesen, stand ihre Entscheidung jetzt fest. Langsam zog sie den Dolch hervor. Die lange Stilettklinge schimmerte im Mondschein, wenn auch längst nicht so gleißend wie Carpis Körper. Der

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