Das Wunder von Treviso
er nach. Seit einer Stunde marterte er sein Gehirn, und diese Marter, so kam es ihm vor, war in ihrem Ausmaß beinahe ebenso peinigend wie die des Herrn selbst.
Don Antonio hatte heute Morgen etwas Unerhörtes in der Zeitung gelesen. Man hatte in der
Repubblica
von einem Dorf in den Anden berichtet. Es war nur eine kleine Notiz, aber sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Im hochgelegenen Partispolo hat sich unlängst ein Wunder ereignet. Die Madonnenstatue in einem Herrgottswinkel, irgendwo an einem Bergpfad in der Höhe von 3755 m gelegen, hat begonnen, milchige Tränen zu weinen. Dieses Phänomen wurde dem Vatikan zugetragen, dessen offizielle Stellungnahme wie folgt lautete: «Ein Wunder Gottes wird uns wieder einmal zuteil durch der Jungfrau heiligen Schmerz, der unendlich ist wie die Liebe zu ihrem getöteten Sohn, dem Sohn Gottes.» Um das Kunstwerk zu erhalten, bittet der Vatikan im Namen der Gemeinde Partispolo um Spenden auf das Konto …
Und nun verdienten sich diese Andenbewohner dumm und dämlich an den Sakraltouristen, die sogar in Bussen dorthin gebracht wurden! Massen von kaufkräftigen undspendenfreudigen Touristen trotteten durch die Anden, um das Wunder der weinenden Madonna von Partispolo auf sich wirken zu lassen. Tausende von Devisenbringern, von denen nicht einer nach Treviso kam.
Don Antonio richtete sich in seinem Sessel auf. Genau das war das Problem: Sie kamen nicht nach Treviso. Und plötzlich wusste Don Antonio auch, warum dies so war und was man tun musste, um es zu ändern.
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Niemand außer Don Antonio konnte später sagen, wann und wie die Idee in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte. Aber eines war klar: Wunder geschehen auf viele Arten. Manche sind so zufällig wie die Entdeckung des Penicillins, andere sind quasi handgemacht wie die sieben Weltwunder, und wieder andere sind nur als Idee wunderbar, es hapert allerdings ein wenig an der Ausführung.
Nachdem der Pater die Tragweite seines Einfalls erfasst hatte, begann er, unruhig im Raum auf und ab zu gehen. Immer mehr junge Leute zogen aus Treviso fort, weil sie keine Arbeit fanden, und ein Geschäft nach dem anderen hatte schließen müssen. Trauriger Höhepunkt des Ganzen war das Ende des Blumengeschäfts von Ernesto Brasini im letzten Monat gewesen. Ernesto hatte keinen Sinn mehr in der Weiterführung seinesLadens gesehen, denn er war bereits neunundsechzig Jahre alt, und ein Nachfolger war nicht in Sicht. Der Laden ging ohnehin schlecht und warf schon seit Jahren nicht mehr viel ab, die Leute hatten einfach kein Geld für Blumen. Nun mussten die Rosen für den Altar immer aus Castello della Libertà bezogen werden, und was das kostete, musste man ja niemandem sagen. Don Antonio stöhnte bei dem Gedanken, dass er den Blumenschmuck für die Hochzeit seiner Nichte bezahlen sollte. Dieser Hund von Bürgermeister wusste genau, was für Preise der Blumenladen in Castello nahm.
Aber was würde geschehen, wenn sich Treviso zum Touristenmagneten entwickelte? Natürlich! Die Gläubigen würden Opfer darbringen wollen, Blumenopfer. Und wer würde die Blumen dafür liefern? Nicht etwa der überteuerte Laden im Dorf der ewigen Mussolinianhänger, nein, ein Laden aus Treviso würde es sein. Vielleicht würde Ernesto doch noch einen Nachfolger finden. Das gäbe mindestens zwei neue Arbeitsplätze hier im Dorf! Und erst die Übernachtungen und die Verköstigung der Pilger, was würden die nicht für Einnahmen bringen? Wenn erst einmal Geld ins Dorf käme, dann kämen auch die Bewohner zurück und damit viele einheimische Gläubige, die neben den Touristen natürlich auch geistlichen Beistand benötigen würden. Und wer würde ihnen diesen gewähren?
Halt!, dachte Don Antonio. Hier spricht der Teufel aus dir! Der Mammon versucht dich! Widerstehe, widerstehe, Antonio!
Doch wie immer, wenn sich eine Idee im Kopf festsetzt, steckt sie den ganzen Geist an, und man kann nicht mehr davon lassen, bis man letztlich doch auf die glühende Herdplatte fasst.
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Trevisos Kirche Santa Maria degli Angeli hatte einst einen Figurenaltar besessen, der die Heilige Jungfrau in Verzückung darstellte und an sich keinen besonderen künstlerischen Wert besaß. Die Vergoldung des Altars aber war sehr üppig ausgefallen und steigerte seinen Wert damit um ein Erkleckliches. Als im Zweiten Weltkrieg die Deutschen ihren Raubzug durch Italien antraten, verschwand der Altar und wurde nie wieder gesehen. Alles, was davon blieb, war die Maria in
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