Das Wunder von Treviso
Ich hab nach der Nichte geschickt!»
«Die kann nicht. Hat zu viel zu tun mit den Vorbereitungen für den Sommerurlaub. Du weißt ja, sie fahren morgen alle in die Berge. Und da ich ohnehin nicht mitfahren wollte – es hat mich allerdings auch niemand gefragt –, bin ich jetzt hier.»
«Oh», antwortete der Pater.
«Was ist, Bruder? Freust du dich gar nicht?»
12
Die Abende in Treviso brachten das Leben zurück. Wenn die Temperatur auf unter dreißig Grad sank, dann machte Massimo ein gutes Geschäft mit seinem Eissalon. Luigi öffnete seinen Friseurladen noch einmal und bediente die Kundinnen, die wegen Übergewichts oder Alters die Hitze tagsüber nicht aushielten. Vito ließ seinen Laden bis zweiundzwanzig Uhr offen, und wer wollte, konnte so noch spät Waschmittel, Tiefkühlhühnchen oder eingelegte Tomaten einkaufen. Erstaunlicherweise wollten das tatsächlich viele Bewohner Trevisos, natürlich nur die, die noch nicht mit ihren Familien in die Berge oder ans Meer gefahren waren. Das war nämlich bei den meisten der Fall, weshalb es in dem Örtchen besonders ruhig war.
Alte Ehepaare gingen spazieren, kauften ihren Enkeln ein Eis und grüßten, wen sie kannten. Die jungen Leute von Treviso standen an ihre Motorini gelehnt und versteckten ihre Zigaretten vor den Eltern. Der Brunnen am Marktplatz, der voller Taubenmist war und in den die kleinen Kinder trotz der Ermahnungen ihrer Mütter die Finger hielten, plätscherte friedlich vor sich hin. Das Wasser war so dreckig wie kalt. Ein paar vom Markttag übrig gebliebene Salatblätter fegten über den Platz, und die Frauen führten ihre handgenähten oder aus dem Katalog bestellten Kleider aus, nur nicht Sofia Bortolotti, die kaufte ihre Kleider in Florenz, wenn sie dort ihre Cousine besuchte. Die alten Männer von Trevisolachten mit den paar Zähnen, die ihnen im Mund geblieben waren, und dachten an die Zeiten, wo sie jede Frau hätten haben können. Oder haben wollen. Wer fragte da schon so genau nach?
Es war Zeit für die alten Leute, sich zur Abendmesse zu begeben. Die fand jeden Mittwoch, Samstag und Sonntag statt und bildete mit schöner Regelmäßigkeit eine Abwechslung im etwas einsamen Alltag derer, die zwar Familie hatten, aber selten von ihren Angehörigen besucht wurden, weil sie zu weit weg wohnten.
Heute jedoch war alles etwas anders. Es war Samstagabend, und es würde keine Abendmesse geben. Auch Vito, der Händler, Luigi, der Friseur, Massimo, der Trattoriabesitzer, und Mario, der Bürgermeister, hatten mitbekommen, dass der Pater krank war, und so sehr sie ihn auch mochten und ihm eigentlich alles Gute wünschten, sie waren doch froh, ihn mal ein Wochenende nicht zu sehen. Ihre Frauen waren da allerdings anderer Meinung.
«Du wirst gefälligst hingehen und nach dem Pater sehen», sagte Vitos Frau.
«Wieso gehst
du
nicht hin?», erwiderte der.
«Weil der Pater ein Mann ist.»
«Wo liegt da die Logik, Frau?»
«Die Logik, Mann, liegt darin, dass ich eine Frau bin und der Pater ein Mann, und zwar ein Mann, der im Bett liegt und der Frauen nicht gewöhnt ist. Ich könnte ihn in Verlegenheit bringen. Und deshalb wirst du gehen!»
Auch Luigis Schwester machte deutlich, dass ihrBruder den Pater zu besuchen hatte, nicht zuletzt, um sie im Anschluss genauestens über alle Einzelheiten zu informieren. Ähnlich erging es Massimo, der seiner Frau aber klar sagte, dass sie wohl dem Wahnsinn anheimgefallen sei, wenn sie allen Ernstes von ihm erwarte, dass er Eissalon und Trattoria an einem Samstagabend seinem Sohn überlassen solle.
«Na was», sagte Massimos Frau, «verpasst du etwa das Geschäft deines Lebens?»
«Ja, genau das!»
«Pah. Dann bring dem Pater wenigstens etwas zu essen vorbei.»
Der Bürgermeister war bequemer als die anderen drei. Er schlug direkt von sich aus die Straße zum Pfarrhaus ein, bevor ihm seine Frau auf die Nerven gehen konnte. Und so machten sich aus allen Richtungen des Dorfes Treviso, einem Sternenmarsch gleich, Vito, Luigi, Massimo und Mario auf den Weg zu Don Antonio.
13
Währenddessen lag der Pater im Bett und ertrug die Fürsorge seiner Schwester Maria. Diese hatte ihn erst stundenlang mit einer Salbe eingerieben, dann Essen gekocht und danach das ganze Haus geputzt, vom Keller bis zum Dach. Nun saß sie völlig erledigt in der Küche, um ein Glas Rotwein zu trinken. Eigentlich war es Messwein, aber Maria wollte sich nach dem anstrengendenTag etwas gönnen und hatte nur diese angebrochene Flasche im
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