Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
Spiritualität abgelegt, die die Männer der Kirche unterdrückten und durch eine Doktrin ersetzten, mit der sie Gott und die Religion nach ihrem eigenen Abbild neu erfanden. Vor Jahrhunderten rief Kaiser Konstantin Bischöfe zum Konzil von Nicäa zusammen. Unter ihnen war Streit ausgebrochen und in Nicäa sollten sie sich auf eine kirchliche Doktrin einigen. Übereinstimmend kamen sie zu einem seltsamen Ergebnis: Sie erklärten Mar i a, die Mutter Jesu, zur ewig jungfräulichen Mutter Gottes – wenngleich Jesus selbst nie eine göttliche Herkunft für sich beanspruchte und unsere Gründerin der lebende Beweis war, der Marias immerwährende Jungfräulichkeit widerlegte.
Diese von Männern gemachten Doktrinen fegten alles beiseite, übertönten die Stimme der Frauen und damit die Stimme der Vernunft und der Erfahrung. Widerstand wurde zu Ketzerei erklärt, ungeachtet der Wahrheit. Diakonissen, die in der frühen Kirche so aktiv gewesen waren, mussten mit ansehen, wie ihre Autorität erst beschnitten und dann gänzlich ausgelöscht wurde. Schon bald debattierten Männer der Kirche darüber, ob Frauen, ähnlich wie Tiere, überhaupt eine Seele haben. Von der sicheren Warte ihrer spirituellen Überlegenheit aus fällt es Männern der Kirche leicht zu glauben, die erzwungene Unterwerfung der Frauen sei echt.
Nach außen zeigt unser Orden Gehorsam der Kirche gegenüber, doch er hat nie aufgehört, Zeugnis von der Wahrheit abzulegen. Die Beweise dafür haben wir in unserem Evangelium und in der Medaille unserer Gründerin bewahrt, Beweise, die nun wichtiger sind denn je.
Seit der Reconquista hat die Inquisition eine Welle religiösen Schreckens ausgelöst, um so den Einfluss der christlichen Monarchen auf Spanien zu festigen. Ein stetig wachsendes Netz von Familiaren der Inquisition behält alles im Auge, hetzt und verleumdet. Nachbarn bespitzeln sich gegenseitig und Diener beäugen ihre Herren und Herrinnen. Sie zeigen an, wer freitags die Vorhänge in seinem Haus schließt, wer weder Schweinefleisch noch Schalentiere anrührt, wer Fleischiges und Milchiges trennt, wer einen neunarmigen Leuchter verborgen hält, wer gen Mekka betet, wer im Monat Ramadan fastet, wer das Pessachfest feiert. Leute werden schrecklicher Verbrechen angeklagt, die fiebrigen Fantasien entspringen, sie werden weggeschleppt, den Folterknechten ausgeliefert und finden schließlich auf dem Scheiterhaufen den Tod. Jeder ist verdächtig. Alle leben in Angst vor Anschuldigungen.
Nun bekundet ein franziskanischer Eiferer, Fr. Ram ó n Sanchez, ihm sei die Heilige Jungfrau erschienen und sie habe geweint, weil sich heimliche Juden und Muslime als Nonnen verkleiden, Klöster durch ihre Anwesenheit entweihen und sich mit dem Ziel zusammenrotten, unsere christlichen Monarchen zu stürzen. Er schwört, die Jungfrau bitte die, die ihr in Liebe zugetan sind, diese abscheulichen Umtriebe aufzuspüren, sie gnadenlos zu zerschlagen und die Klöster zum Ruhme Gottes von Ketzern und Ungläubigen zu säubern. Ach, wie viel Böses wird da im Namen einer Frau angerichtet! Möglicherweise von einem Irren, doch mit der willigen Unterstützung von Männern, die niemand irre nennen würde.
Und es heißt, Fr. Ram ó n sei zugleich ungebildet und irre, eine gefährliche Kombination. Er kann weder lesen noch schreiben, er hat Anfälle, er fastet ununterbrochen und seine Ordenstracht starrt vor Schmutz und Blut von einem cilice , den er um den Leib trägt. Er schreit im Schlaf, von Dämonen gepeinigt, die ihn dazu bringen wollen, ihn zu lockern. Und dennoch übt er eine seltsame Macht über jene aus, die mit ihm in Berührung kommen, seine Predigten stacheln den Pöbel zu Gewalt an, die Menschen grölen zustimmend, wenn er von einer »Reinigung« der Klöster spricht. Die Äbtissin meint, dass sich die Stimmung bald gegen ihn wenden wird – die Jesuiten des Heiligen Offiziums werden sich nicht auf ewig von einem rohen Bauern anführen lassen. Doch bis dahin ist er so gefährlich wie eine Giftschlange.
Im letzten Jahr unterrichtete das Heilige Offizium die Äbtissin davon, dass man eine Untersuchung beginnen würde, um festzustellen, ob die Bekundungen des Fr. Ram ó n zutreffen. Ihre Tribunale würden jedes Kloster in Spanien besuchen, eine Arbeit, die viele Jahre dauern wird. In jedem Kloster würde das Tribunal eine Liste möglicher Ketzer benötigen, um sie einer Prüfung zu unterziehen.
Nicht nur die Äbtissin, auch alle anderen in unserem Orden würden lieber
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