Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
sterben als einen solchen Verrat zu begehen. Die vornehmste Regel unseres Ordens wurde von unserer Gründerin festgelegt; sie besagt, dass wir Mädchen und Frauen vor der Gewalt von Männern schützen. Seit den frühesten Tagen unserer Gemeinschaft, als die ersten Schwestern in Höhlen lebten, fanden Frauen aus den Bergdörfern bei uns Zuflucht, wenn ihre Männer sie schlugen und misshandelten. Unsere erste Äbtissin entschied, dass ein Mann, bevor seine Frau zu ihm zurückkehrte, als Unterpfand für sein zukünftiges Wohlverhalten unserem Kloster etwas von Wert überlassen sollte. Die Männer hier haben uns Ordensfrauen schon immer besondere Eigenschaften zugesprochen, seien es Heilkräfte oder übernatürliche Fähigkeiten, und so erwies sich diese Regelung als wirksam.
Unser Orden ist kaum bekannt, unser Kloster liegt fernab in den Bergen und beides war für unsere Arbeit günstig. Über Jahrhunderte nahm die Kirche unsere Existenz kaum zur Kenntnis, sie schickte uns lediglich von Zeit zu Zeit einen älteren Priester, der die Messe lesen und seine letzten Jahre unter unserer Pflege verbringen sollte. Nach der Reconquista unternahm Königin Isabel eine Pilgerreise hierher, um ein christliches Kloster zu ehren, das auch unter der Herrschaft der Mauren Bestand hatte. Gerade unsere Abgeschiedenheit von der Welt fand ihre Zustimmung, glaubte sie doch, dass sie eine Gewähr für unsere Spiritualität und Tugend sei. Aus diesem Grund erwies sie uns die Gunst ihrer besonderen Aufmerksamkeit und ihres Schutzes.
Die sündige Welt erkannte jedoch in eben dieser Abgeschiedenheit und Unbekanntheit einen Grund, uns aufzusuchen. Höflinge, die die Königin bei ihrem Besuch begleiteten, stifteten ein Waisenhaus, das in unseren Klostermauern errichtet werden sollte. Dafür hatten sie ihre eigenen Beweggründe, und diese waren bisher wie ein Bollwerk gegen die Inquisition, obwohl die Inquisition immer mächtiger und einflussreicher geworden ist.
Die strengen katholischen Sitten am Hofe haben neue Opfer hervorgebracht, die bedrohten escondidas , die »verborgenen Mädchen«: uneheliche Töchter von Höflingen und ihren Mätressen, oftmals Damen der Aristokratie. Es gibt auch Kinder, die den Begierden der übelsten Art entspringen – Väter und Brüder und Onkel, die ihre eigenen Töchter, Schwestern und Nichten geschwängert haben. Die Granden müssen die Früchte solcher Begierden verbergen, sonst setzen sie ihre Position bei Hofe aufs Spiel.
Man lässt die Mädchen heimlich verschwinden und bringt sie zu uns, meist, wenn sie abgestillt sind. Angeblich gibt es jemanden bei Hofe, einen Mann in bedeutender Stellung, der ihr Verschwinden mithilfe von Mittelsmännern bewerkstelligt. Diese Mittelsmänner wissen nicht, wer die Mütter der Kinder sind. Und die Mütter erfahren nur, dass ihre Töchter in ein weit entfernt liegendes Kloster gebracht werden. Außer den Höflingen, die das Waisenhaus gestiftet haben, wäre es nur wenigen möglich, die Spur der Kinder bis nach Las Golondrinas zu verfolgen.
Die verborgenen Kinder bringen eine Mitgift mit, den Preis für die Schuld ihrer Eltern. Sie lernen das Leben außerhalb der Klostermauern nie kennen und zu gegebener Zeit werden sie alle Nonnen. Die Sünde der Eltern sei dadurch abgegolten, dass die Kinder Gott geweiht werden, lautet die fromme Begründung. Die Wahrheit ist jedoch sehr viel grausiger, und das ist der Grund, weshalb wir der Errichtung des Waisenhauses zugestimmt haben. Oftmals ist es die einzige Möglichkeit, das Leben dieser Kinder zu retten. Unerwünschte Säuglinge sind hilflose Opfer; sie zu ersticken oder wie junge Katzen zu ertränken, ist das Werk eines Augenblicks.
Die Waisenmädchen sind zwar eine heikle Angelegenheit, doch was uns bei der Inquisition in Gefahr bringt, sind die fünf älteren Mädchen, die ihren Weg hierher fanden, um sich im Kloster zu verstecken – Esperanza, P í a, Sanchia, Marisol und Luz. Für vier von ihnen sind die Vorbereitungen fast abgeschlossen: Sie sollen noch heute Nacht aufbrechen, um Zuflucht in Spanischamerika zu finden und dort Ehemänner zu suchen. Sollten sie der Inquisition in die Hände fallen, müssten sie fürchterliche Befragungen über sich ergehen lassen, die schnell drei »Ketzerinnen« zutage fördern würden, dazu ein Mädchen, das wie eine weiße Hirschkuh gejagt wird, weil ihre Existenz nichts Geringeres als eine Bedrohung für den Thron bedeutet. Die fünfte ist die arme kleine Erbin Luz, die es um jeden
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