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Das Zeit-Tippen

Das Zeit-Tippen

Titel: Das Zeit-Tippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Dann
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Zeit auf der Straße als in der Synagoge verbrachte, aber indem er an seiner Linie festhielt, konnte er nicht umhin dazuzulernen. Er setzte die Welt zusammen, indem er erkannte, wo sie war, sein würde, sein könnte oder auch nicht. Wenn er verwirrt wurde, bediente er sich der Logik.
    Und die Tage vergingen schneller, obwohl er mehrmals nächtelang in der Schul betete und schlief. Alles um ihn herum strudelte. Die Stadt war ein wechselndes Kaleidoskop von Farben aus jeder Geschichtsperiode, die zu verschiedenen Aufmachungen verschmolzen, wenn die Diebe und Diplomaten und Fürsten und Kaufleute über das Kopfsteinpflaster der Straßen in Brooklyn schlenderten.
    Mit Prismen anstelle der Augen machte sich Litwak durch die Menge der Sklaven und Leibeigenen und Abonnementskartenhalter auf den Heimweg. Lehnsherrschaft in Brooklyn abzustecken war schwierig, so daß die Sklaven augenblicklich frei herumliefen, nur um irgendwohin zu reisen, wo sie wieder aufgegriffen und vergewaltigt wurden und schufteten, bis sie wieder reisen konnten – und immer weiter, bis die alte Logik in die Brüche ging. Der King’s Highway war ein schlechtes Stadtviertel. Der Boys’ Club war in einen Sklavenmarkt und eine Galgenstätte verwandelt worden.
    Litwaks winzige Wohnung war ein vertrauter Knotenpunkt am Ende des Seils. Golde hatte sich wieder verändert, aber nur geringfügig. Golde ändert sich dauernd, wenn ihre verschiedenen Zeitlinien in Litwaks Küche und Schlafzimmer zusammentrafen. Ein paar der Goldes mochte er, aber die Veränderung vollzog sich nur allmählich, und die Goldes hatten die Neigung herunterzukommen. Daher mußte er für jede heißblütige Golde mit blondgefärbtem Haar fünfzig oder tausend Goldes mit Zahnlücken und krächzenden Stimmen erdulden.
    Die letzte Golde hatte es irgendwie fertiggebracht, einen Wellensittich zu kaufen, der sich in einen Eichelhäher, einen Papagei mit roten Federn und in einen Strauß verwandelte, der ein Abendessen lieferte. Litwak hatte entdeckt, daß kleinere Tiere schneller die Zeit tippten als Menschen und größere Tiere; vielleicht, dachte er, war das eine Frage des Stoffwechsels. Golde tötete den Strauß, ehe etwas anderes seinen Platz einnehmen konnte. Mit Logik und Mitleid segnete Litwak ihn, um ihn koscher zu machen – der Rabbi war nicht zu finden und zudem (man stelle sich vor) ein Neuchassid, der den Talmud nicht von einer Werbesendung unterscheiden konnte; schlimmer noch, er las Hebräisch mit einem bei solchen neuen Rabbis häufigen Brooklynakzent. Es war besser, daß Litwak sein eigenes Fleisch segnete; laßt den Rabbi die Nahrung der Gojim segnen.
    Eine andere Mahlzeit mit einer anderen Golde, einer dunkelhäutigen und pickligen, übergewichtigen und wabbeligen, aber ihre Augen hatten die Farbe des von einem Flugzeug aus an einem sonnigen Tag gesehenen Ozeans. Litwak konnte sich nicht auf das Essen konzentrieren. Ein heftiger Kampf fand zwei Straßen weiter statt, und Litwak machte sich Sorgen, wie er zur Schul gelangen konnte.
    „Noch etwas Suppe?“ fragte Golde.
    Sie hatte auch hübsche Hände, dachte Litwak. „Nein, vielen Dank“, sagte er, bevor sie verschwand.
    An ihrer Stelle stand eine vierschrötige Bäuerin, deren Hände und deren zerlumptes Kleid noch von reicher schwarzer Erde beschmutzt waren. Sie schrie nicht und tobte nicht und griff Litwak nicht an; sie rang nur die Hände und kratzte sich zwischen den Beinen. Sie sprach die gleiche Sprache, in den gleichen leisen Tönen, die Litwak mehrere Nächte in der Schul gehört hatte. Ein Ägypter namens Rhampsinitus hatte seinen Weg in die Synagoge gefunden, die er für einen Barbarentempel für Baiti, den Possenreißergott, hielt.
    „Baiti?“ fragte sie mit erhobener Stimme. „Baiti“, antwortete sie voller Überzeugung.
    Das reicht, dachte Litwak, der gerade erkannt hatte, daß der ranzige Geruch im Zimmer von Schweiß herrührte.
    Er rannte aus der Wohnung, ehe sich Golde in etwas noch Schrecklicheres verwandelte. Änderungen hatte er erwartet. Die Dinge ändern sich und wechseln – das ist logisch. Aber nicht so schnell. Er hatte (dachte er) natürliche Vorgänge in der Vergangenheit verlangsamt, aber jetzt rutschte er und versank wie die übrigen. Ein kahlgeschorener Samson auf einem dahintreibenden Floß.
    Die Zeit ist kein Fluß, dachte Litwak, als er sich den Weg durch größere dahintreibende, grölende, lachende, übergeschnappte Mengen bahnte, während alte Männer von vorzeitlichen Monstren

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