Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
sowie die Künstler selbst davon profitieren könnten.
Erkenntnisse über die Prozesse der visuellen Wahrnehmung und emotionalen Reaktionen könnten durchaus neue Begrifflichkeiten für die Kunst generieren, neue Kunstformen und möglicherweise sogar neue Ausdrucksformen künstlerischer Kreativität. Genau wie Leonardo da Vinci und andere Künstler der Renaissance die Erkenntnisse über die menschliche Anatomie nutzten, um den Körper präziser und überzeugender darzustellen, werden vielleicht auch viele zeitgenössische Künstler als Reaktion auf Erkenntnisse der Hirnforschung neue Darstellungsformen entwickeln. Die Biologie hinter künstlerischen Einsichten, der Inspiration und den Reaktionen der Betrachter auf Kunst zu verstehen, könnte von unschätzbarem Wert für Künstler sein, die ihre Kreativität steigern möchten. Auf lange Sicht liefert die Hirnforschung vielleicht auch Hinweise auf das Wesen der Kreativität selbst.
Die Wissenschaft versucht komplexe Vorgänge zu verstehen, indem sie sie auf ihre wesentlichen Ereignisse reduziert und das Wechselspiel dieser Ereignisse untersucht. Dieser reduktionistische Ansatz gilt auch für die Kunst. Tatsächlich ist meine Konzentration auf eine Schule der Kunst mit nur drei Hauptvertretern ein Beispiel hierfür. Einige Stimmen befürchten, dass eine reduktionistische Analyse unsere Faszination von Kunst vermindert, dass sie die Kunst trivialisiert und ihrer besonderen Kraft beraubt, während der Anteil des Betrachters auf eine gewöhnliche Hirnfunktion schrumpft. Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass der Reduktionismus, wenn man zu einem Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst sowie zur Konzentration auf jeweils nur einen geistigen Prozess ermuntert, unseren Horizont erweitern und uns neue Erkenntnisse über die Natur und die Schöpfung von Kunst verschaffen kann. Diese neuen Erkenntnisse werden uns in die Lage versetzen, unerwartete Aspekte der Kunst wahrzunehmen, die den Beziehungen zwischen biologischen und psychologischen Phänomenen entspringen.
Weder negieren der Reduktionismus und die Hirnbiologie Reichtum und Komplexität der menschlichen Wahrnehmung, noch schmälern sie unsere Wertschätzung von Gestalt, Farbe und Emotionen menschlicher Gesichter und Körper. Wir verfügen mittlerweile über eine fundierte wissenschaftliche Vorstellung vom Herzen als einem muskulären Organ, das Blut durch Körper und Gehirn pumpt. Demzufolge betrachten wir das Herz nicht mehr als Sitz der Gefühle. Doch diese neue Erkenntnis führt nicht dazu, dass wir das Herz weniger bewundern oder seine Bedeutung für uns weniger zu schätzen wissen. Entsprechend kann die Wissenschaft Aspekte der Kunst erklären, doch ersetzt dies nicht die von der Kunst ausgehende Inspiration, die Freude der Betrachter an der Kunst oder die Impulse und Ziele von Kreativität. Ganz im Gegenteil – die Biologie des Gehirns zu verstehen, trägt höchstwahrscheinlich zu einer Erweiterung des kulturellen Rahmens für Kunstgeschichte, Ästhetik und Kognitionspsychologie bei.
Vieles von dem, was wir an einem Kunstwerk interessant und spannend finden, lässt sich mit der derzeitigen Wissenschaft des Geistes nicht erklären. Doch alle bildenden Künste, von den urzeitlichen Höhlenmalereien aus Lascaux bis zu heutigen Performances, besitzen wichtige visuelle, emotionale und empathische Komponenten, die wir nun von einer neuen Ebene aus begreifen können. Ein besseres Verständnis dieser Komponenten bringt uns nicht nur den konzeptuellen Gehalt der Kunst näher, sondern erklärt auch, wie die Rezipienten ihre Erinnerungen und Erfahrungen zu einem Kunstwerk in Beziehung setzen und damit Aspekte der Kunst in einen weiteren Wissenshorizont integrieren.
Während die Hirnforschung und die Geisteswissenschaften weiterhin ihre spezifischen Schwerpunkte verfolgen, möchte ich in diesem Buch einen Weg aufzeigen, wie die Wissenschaft des Geistes und die Geisteswissenschaften ihren jeweiligen Fokus auf ganz bestimmte gemeinsame Herausforderungen richten und in den künftigen Jahrzehnten den Dialog fortsetzen könnten, der als Suche nach einer Verknüpfung von Kunst, Geist und Gehirn in Wien um 1900 seinen Anfang nahm. Diese Aussicht hat mich darin bestärkt, Das Zeitalter der Erkenntnis mit einer weiter gefassten historischen Betrachtung zu beschließen, in der ich zeige, wie Wissenschaft und Kunst einander in der Vergangenheit beeinflusst haben und wie diese interdisziplinären Einflüsse in Zukunft unsere Kenntnisse
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