Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
können.
In diesem Zusammenhang untersuche ich den Einfluss des zeitgenössischen wissenschaftlichen Denkens und des weiteren intellektuellen Umfelds von Wien um 1900 auf drei Künstler: Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele. Ein charakteristisches Merkmal des Wiener Lebens jener Zeit war die fortgesetzte, freie Kommunikation von Künstlern, Autoren und Denkern mit Wissenschaftlern. Die Interaktion mit Medizinern und Biologen sowie mit Psychoanalytikern beeinflusste die Porträtmalerei dieser drei Künstler maßgeblich.
Auch aus anderen Gründen bieten sich die Vertreter der Wiener Moderne für diese Untersuchung an. Zunächst einmal erlauben sie eine tiefgreifende Analyse, weil es nur so wenige – drei Hauptvertreter – gibt, die jedoch für die Kunstgeschichte als Kollektiv wie auch als Individuen von großer Bedeutung sind. Als Gruppe versuchten sie, das unbewusste, triebhafte Streben der Menschen in ihren Zeichnungen und Gemälden festzuhalten, wobei aber jeder Einzelne seine ganz eigene Art und Weise entwickelte, seine Einsichten mithilfe von Gesichtsausdrücken sowie Hand- und Körpergesten darzustellen. Dabei leistete jeder der Künstler einen unabhängigen konzeptuellen und technischen Beitrag zur modernen Kunst.
In den 1930er-Jahren trugen die Dozenten der Wiener Schule der Kunstgeschichte maßgeblich zur Weiterentwicklung des an der Moderne ausgerichteten Programms von Klimt, Kokoschka und Schiele bei. Sie betonten, dass Künstler der Moderne nicht Schönheit, sondern neue Wahrheiten präsentieren müssten. Darüber hinaus bereitete die Wiener Schule der Kunstgeschichte, teils unter dem Einfluss von Sigmund Freuds psychologischen Arbeiten, den Boden für eine wissenschaftlich fundierte Kunstpsychologie, die sich ursprünglich auf die Rezipienten der Kunst konzentrierte.
Heute ist die neue Wissenschaft des Geistes so weit ausgereift, dass sie einen erneuten Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft eröffnen und beleben kann, in dessen Mittelpunkt wieder die Rezipienten stehen. Um die Verbindung zwischen der heutigen Hirnforschung und den Malern von »Wien 1900« aufzuzeigen, skizziere ich in groben Zügen – für das allgemeine Lesepublikum und Studenten der Kunst und Geistesgeschichte gleichermaßen – unser derzeitiges Wissen über die kognitionspsychologische und neurobiologische Grundlage von Wahrnehmung, Gedächtnis, Gefühl, Empathie und Kreativität. Danach untersuche ich, welche Erkenntnisse uns die Verknüpfung von Kognitionspsychologie und Hirnbiologie darüber gebracht hat, wie Menschen Kunst wahrnehmen und auf sie reagieren. Meine Beispiele stammen zwar aus der Malerei der Moderne, insbesondere dem österreichischen Expressionismus, doch die Prinzipien der Reaktion auf Kunst sind auf alle Epochen der Malerei anwendbar.
WARUM SOLLTEN WIR EINEN DIALOG ZWISCHEN Kunst und Wissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Kultur im Allgemeinen befördern? Hirnforschung und Kunst repräsentieren zwei verschiedene Blickwinkel auf den menschlichen Geist. Die Wissenschaft lehrt uns, dass unser gesamtes geistiges Leben auf unserer Hirnaktivität beruht. Wenn wir also diese Aktivität ergründen, beginnen wir die Prozesse zu verstehen, die unseren Reaktionen auf Kunstwerke zugrunde liegen. Wie wird aus den von den Augen gesammelten Informationen »Sehen«? Wie verwandeln sich Gedanken in Erinnerungen? Was ist die biologische Grundlage unseres Verhaltens? Demgegenüber ermöglicht die Kunst Einblicke in die flüchtigeren, real erlebten Merkmale des menschlichen Geistes, in die Art und Weise, wie wir eine spezifische Erfahrung empfinden. Ein Hirnscan kann vielleicht die neuronalen Anzeichen einer Depression enthüllen, aber eine Sinfonie von Beethoven enthüllt uns, wie sich die Depression anfühlt. Beide Sichtweisen sind notwendig, wenn wir das Wesen des menschlichen Geistes ganz erfassen wollen, doch nur selten werden sie vereint.
Das intellektuelle und künstlerische Umfeld von Wien um 1900 stand für einen frühen Austausch zwischen den beiden Sichtweisen und brachte die Erkenntnisse über den menschlichen Geist einen gewaltigen Schritt voran. Wie ließe sich heute von einem solchen Austausch profitieren und wer wären die Nutznießer? Der Nutzen für die Hirnforschung ist klar: Eine zentrale Frage der Biologie lautet, wie das Gehirn sich seiner Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gefühle bewusst wird. Aber genauso gut ist vorstellbar, dass auch Kunstbetrachter, Kunst- und Geistesgeschichtler
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