Das Ziel ist der Weg
Nachmittagssonne brechen sich rubinrot in meinem Weinglas. In Palas de Rei sitze ich vor einer Bar und esse nach und nach auf Zahnstochern aufgespießte Pulpo-Stücke, die auf einem kleinen Teller vor mir liegen — in Rotwein gekochter Seepolyp mit Paprika, Olivenöl und grobem Meersalz, eine galicische Spezialität. Die beiden vergangenen Tage ziehen vor meinem Auge vorüber. Besonders die Corredoiras, schon zur Römerzeit existierende uralte Straßen aus unregelmäßigen Steinen, hinterließen in mir bleibende Spuren. Mein letztes Stück Pulpo spüle ich mit dem Rest des Rotweins hinunter. Santiago ist nicht mehr weit, nur noch zwei Tagesetappen.
»Oculi mei«. Ich bin in der kleinen Kapelle am Monte do Gozo. Unter mir liegt Santiago, so nahe. Es ist unwirklich, dass der Weg morgen zu Ende sein soll. Ich bin müde. Werde hier im Lager Rast machen, mich auf meine Ankunft morgen innerlich vorbereiten. Gut, dass der Weg zu Ende ist. Furchtbar, dass der Weg zu Ende ist.
Im Dunkel gehen wir gemeinsam hinunter nach Santiago: Christian, Hans und ich. Die Stadt liegt noch im Schlaf, kein Mensch ist unterwegs. Leichter Nebel liegt in den Straßen, die Pflastersteine glänzen im Schein der Laternen. Es dämmert gerade, als vor der Kathedrale unsere letzten Schritte verhallen. In ihr sind wir noch fast alleine. Die Stille des großen Raumes macht uns schweigen. Ich setze mich auf eine Kirchenbank und fühle in mich hinein. Freude? Erleichterung? Ich weiß nicht... Noch habe ich nicht das Gefühl, angekommen zu sein. Bin wie betäubt.
Nach nur einer Stunde geht es los. Plötzlich strömen die Touristen unaufhaltsam in die Kathedrale, die reisebusgeschwängerte Atmosphäre ist nicht auszuhalten. Vor der Kathedrale werden an Souvenirständen Plastikfiguren des heiligen Jakobus und weitere zweifelhafte Devotionalien unter die Leute gebracht. Nach 81 Tagen in der Natur, in der Einsamkeit, wirkt das alles auf mich befremdlich, völlig fehl am Platz. »Ist das der wahre Jakob?«
Und es ergreift mich doch: In der Pilgermesse saust der schwere Weihrauchkessel, der Botafumeiro, mit enormer Geschwindigkeit im Abstand von zwei Metern an meinem Kopf vorbei, Weihrauchschwaden hinter sich herziehend. Plötzlich löst sich die ganze Anspannung. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich bin wirklich in Santiago angekommen, ich bin wirklich in Santiago angekommen, ich bin wirklich in Santiago angekommen.
Ich habe mir ein einfaches Zimmer in der Altstadt genommen. Bleibe ein paar Tage, streife unruhig durch die von Touristen besetzte Stadt, gehe häufig in die Kathedrale. Nach und nach treffen immer mehr Pilger, die ich auf dem Weg kennengelernt habe, vor dem Obradoiro ein. Wir essen gemeinsam, tauschen uns aus, feiern unsere Ankunft. Aber dennoch: Was will ich hier? Ist das das Ende meines Jakobswegs?
End-Punkt
Von Santiago nach Finisterre
»Wenn du die Grenzen der Seele suchst, du wirst sie niemals finden, auch wenn du jeden Weg zu Ende gehst, so tiefen Wesensgrund hat sie.«
Heraklit
End-Punkt: Ein Endpunkt, der kein wirklicher ist. Das Ziel einer Pilgerfahrt ist nur eine Durchgangsstation. Denn der Pilgerweg ist nur ein Teil des Lebenswegs. Eine Etappe. Vielleicht sogar eine der wichtigsten im Leben, und doch nur eine Etappe. Der Endpunkt ist zugleich Umkehrpunkt zurück in das Alltagsleben, aus dem die Pilger aufgebrochen sind. Sie kehren als Gewandelte zurück, die sich in ihrem neuen So-Sein unter den seelisch günstigen Bedingungen des Weges schon gefestigt haben. Nun werden sie vor der Aufgabe stehen, auch in der schnellen Welt der modernen Gesellschaft ihren neuen Weg zu verwirklichen.
Jedoch: Die Erfahrung der Pilgerschaft verändert Pilger für immer. Ihre Not-Wendigkeit hat sie auf den Weg gerufen, auf dem sie für ihr weiteres Leben Orientierung gefunden haben. Sie haben am eigenen Leib erfahren, warum in allen Religionen der Weg als Bild für das menschliche Leben gilt. Sie wissen als Sinnsuchende und Gewandelte nun intuitiv, warum Sinn und Fahrt sowie Wandern und Wandeln in ihren Wortwurzeln zusammenhängen: Die Entwicklung, die Pilger erfahren, wäre in ihrem ehemaligen Alltag nicht möglich. Sie mussten gehen, um zu sich zu finden. Davon spricht Goethe, wenn er in Wilhelm Meisters Wanderjahre über die Pilger schreibt: »Sie ziehen zu ganzen Scharen nach geweihter, wundertätiger Stelle, dort zu suchen und zu empfangen, was ihrem Inneren zu Hause nicht verliehen ward.«
Am Endpunkt geht der Weg für Pilger
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