Das Ziel ist der Weg
mit der sie tief bewegenden Frage. Ihre Erkenntnis, dass Innen und Außen eins sind. Der Kontakt zu ihren ureigenen Gefühlen, ihrem ureigenen Weg im Gefühl des Eins-Seins. Ihre Stabilisierung — und damit ihre Einordnung als Neugewordene in die Gemeinschaft. Die Begegnung mit ihren dunklen Seiten. Ihre innere Bereitschaft, diesen Weg zu beenden und einen neuen zu beginnen. Wenn Pilger ihren letzten Schritt als Pilger machen, liegt in ihm der Reichtum eines langen Weges: Sie sind aufgebrochen. Sie sind in sich gegangen. Sie sind zu sich gekommen.
Der Jakobsweg von Léon nach Santiago de Compostela ist gekennzeichnet von zwei hohen Bergpässen, die Pilger überwinden müssen, um an ihr Ziel zu gelangen: Nach der Durchquerung der kargen Maragatería steigt der Weg steil an zum Rabanal-Pass und genauso steil wieder hinunter in das grüne Bierzo, bevor er abermals zum О Cebreiro-Pass hinaufführt. Von hier aus verläuft der Weg in der noch grüneren Hügellandschaft Galiciens, immer auf das Ziel zu: das Grab des heiligen Apostels Jakobus in Santiago de Compostela.
Pilger verlassen das leuchtende Innere der Kathedrale in Léon und lassen sich aus der Stadt leiten von den im Fußboden eingelassenen Jakobsmuscheln aus Messing hin zum ehemaligen Pilgerhospiz San Marcos. Über eine alte Bogenbrücke und am Río Bernesga entlang, weiter über Feldwege und dem gelben Pfeil durch Dörfer folgend, erreichen sie schließlich die gewaltige Steinbrücke über den Río Órbigo aus dem 13. Jahrhundert. Über die 20 Bogen der Brücke gehen sie auf die Häuserzeilen von Hospital de Órbigo zu, einer ehemaligen Johanniter-Komturei. Erst ab hier löst sich die Monotonie der Meseta auf, und der mittelalterliche Pilgerweg wird wieder spürbar. Immer geradeaus auf Feldwegen und durch kleine Wälder gelangen die Pilger zum großen Wegkreuz vor Astorga, von wo aus sie die Stadt auf einer Anhöhe erblicken. Astorga war im Mittelalter eine wichtige Station auf dem Jakobsweg: Hier vereinigten sich der »Camino Francés« und die »Via de la Plata«, der vom südlichen Sevilla kommende Jakobsweg. Moderne Pilger gehen am von Antonio Gaudí gestalteten neogotischen Bischofspalast und der Kathedrale vorbei und dringen ein in die hügelige Landschaft der Maragatería, den Gebirgszug der Montes de Léon immer vor Augen.
Durch die karge Landschaft, eventuell mit einem Abstecher nach Castrillo de los Polvozares, dem unter Denkmalschutz stehenden malerischen Dorf der hier im Mittelalter ansässigen Fuhrleute, wandern sie wieder auf angelegten Schotterwegen auf die Passhöhe zu. Sie durchqueren El Ganso und folgen erneut dem Schotterweg bis nach Rabanal del Camino. Am Ortseingang passieren sie die Ermita del Santísimo Cristo und dann die gedrungene Ermita San José. Sie steigen weiter steil auf, durchqueren den verlassenen Ort Foncébadon — früher eine wichtige Pass-Station und Hospiz auf dem Jakobsweg — , steigen noch höher bis zum Cruz de Ferro. In 1.504 Metern über dem Meer ragt ein Eisenkreuz, befestigt an einem fünf Meter hohen Eichenstamm, aus einem Steinhügel. Hier legen die Pilger einer uralten Tradition folgend einen Stein ab, den sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben, und mit diesem ihre Sorgen, ihre Nöte und ihre Ängste, die sie auf den Weg geführt haben.
Die Pilger wandern in großer Höhe an verlassenen Häusern vorbei, genießen das Bergpanorama der Montes de Léon, überqueren den Rabanal-Pass, steigen steil ab nach El Acebo und weiter hinunter nach Molinaseca, das sie über die alte Pilgerbrücke betreten, welche den Río Meruelo überspannt. Auf Feldwegen gehen sie weiter nach Ponferrada, bis vor die von den Templern im 12./13. Jahrhundert zum Schutz des Jakobswegs errichtete mächtige Burg. Nach kurzem Verweilen in der Basilika Nuestra Señora de la Encina überqueren sie den Río Sil und gelangen über Pisten- und Feldwege nach Cacabelos. Durch die Altstadt und über die Brücke, weiter, immer weiter durch die Weinberge führt sie schließlich ein langer Pistenweg nach Villafranca del Bierzo in die kleine romanische Santiagokirche mit ihrer Gnadenpforte, der Puerta del Perdón. Im Mittelalter erhielten schwer kranke Pilger schon hier den verheißenen Generalablass. Verschiedene Orden führten in Villafranca fünf Pilgerhospize. Bis nach Trabadelo können Pilger ihren Weg wieder wählen: Entweder folgen sie der ansteigenden Asphaltstraße oder sie gehen in Villafranca hinunter in die Altstadt, überqueren auf der
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