Das Ziel ist der Weg
öffnen Breschen in dem verkapselten Bewusstsein, durch die mit der frischen Luft die normale Perspektive eindringen kann.« *
Mit dem äußeren Sichtwechsel beginnen erste Ablöseprozesse und intuitive Umbewertungen, mit der eindringlicheren Betrachtung der Natur vertieft sich irgendwann auch die Aufmerksamkeit für sich selbst, vertieft sich die Aufmerksamkeit für die eigene innere Seelenlandschaft. »Siehe, du blinder Mensch, ich will dir’s zeigen: gehe auf eine Wiese!«, schreibt der mystische Denker Jakob Böhme.
In dieser neuen Wahrnehmung sind Pilger nicht auf einem beliebigen Weg, sie gehen den Jakobsweg. Sie laufen in den Spuren anderer vor ihnen: Spuren, die zum Teil bis in das Mittelalter zurückreichen. Alle haben sie etwas hinterlassen. Greifbar: Brücken, Kapellen, Klöster, Wegzeichen. In der Atmosphäre: Schweiß, Mühsal, Tränen, Verwünschungen, Gebete. Die spirituelle Aura und die Gewissheit, dass andere vor ihnen in ihrem ganz eigenen Anliegen diesen Weg gegangen sind, helfen ihnen, sich von ihrem bisherigen Alltag zu lösen und ihre unmittelbare Wahrnehmung zu schärfen und zu verändern.
Um die Mittellandroute, die ehemalige »Oberstrass«, zu erreichen, führt der Jakobsweg von Basel über die einsamen Höhenzüge des Schweizer Jura bis nach Solothurn und weiter nach Bern. Bald darauf folgt er dem Hauptweg der mittelalterlichen Jakobuspilger über Fribourg, Romont, Moudon nach Lausanne und malerisch am Ufer des Genfer Sees entlang weiter nach Genf, begleitet von historischen Kirchen und Kapellen, Zeugen der Jakobuspilgerfahrt seit Jahrhunderten.
Wenn Pilger durch das Tor des Basler Münsters ins Freie treten, sehen sie den Jura vor sich, den ihr Jakobsweg überqueren wird. Sie steigen zur Burgruine Pfeffingen empor und gelangen über Grellingen durch die naturwüchsige Chaltbrunnenschlucht nach Meltingen. Sie überqueren den Meltingerberg und finden einen der ruhigsten und friedlichsten Orte auf dem Jakobsweg: das Kloster Beinwil. Inmitten von Jurabergen, fern jeglicher Zivilisation, erfahren Pilger die meditative Ruhe der ökumenischen klösterlichen Gemeinschaft. Steil hinauf auf den Gipfel der Hohen Winde und auf einsamen kalkweißen Jurawegen wandern sie über die Höhenzüge nach Gänsbrunnen. Wenn sie sich in der barocken St. Ursen-Kathedrale von Solothurn sammeln, haben sie den Weißenstein überquert und die Einsiedelei in der Verenaschlucht passiert. Die Pilger ziehen weiter über Felder und durch Wälder, vorbei an gepflegten Bauernhäusern, bis Bern.
Sie steigen hinab zur Sense und wandern auf dem Uferpfad, begleitet vom Rauschen des Flusses, zur Schwarzwassermündung. Steil hinauf geht es nach Schwarzenburg, wo sie auf den von Einsiedeln kommenden ausgeschilderten Jakobsweg treffen. An der Außenwand der Kapelle in Tafers berührt sie mitten in der Schweiz das Zeugnis früherer Jakobuswallfahrt: die Darstellung des Hühnerwunders in Santo Domingo de la Calzada im fernen Spanien. Die Pilger nehmen die Route, die auch schon der Servitenmönch Hermannus Künig von Vach in seinem Pilgerführer von 1495 beschreibt: Über Fribourg und die uralte Brücke Sainte-Apolline über die Glane gelangen sie zur Zisterzienserabtei Hauterive. Am Kloster La Fille-Dieu vorbei steigen sie hinauf nach Romont, wo sie sich in der dunklen Stille des Kircheninnenraums ausruhen können. Sie gehen weiter durch die mittelalterliche Stadt Moudon und erreichen über Felder und Hohlwege schließlich Lausanne am Genfer See. In der frühgotischen Kathedrale, unter der mächtigen Glasrosette, wird ihnen bewusst, welchen Stellenwert die Jakobuspilgerfahrt im Mittelalter hatte: Der Jakobsweg führte mitten durch die Kathedrale hindurch.
Daraufhin wandern Pilger am Ufer des Genfer Sees entlang bis zur alten Kirche Saint-Sulpice. Sie treten ein in die Stille der schweren Mauern; ins romanische Dunkel streut eine einzige Glasscheibe spärlich warmes Licht. Die Pilger folgen nach Morges entweder dem Ufer des Genfer Sees über Rolle oder weichen in die malerischen Weinberge nach Aubonne aus. Ab Nyon führt sie in beiden Fällen der Jakobsweg am Ufer entlang direkt in die »Vieille Ville«, die Altstadt Genfs. Wenn sie in der gotischen Kathedrale Saint-Pierre angekommen sind und sie der heilige Jakobus aus dem Glasfenster der Makkabäer-Kapelle anblickt, hat sich ihre Wahrnehmung an den langsamen Rhythmus des Pilgerns angepasst, hat sich ihre Sicht gewandelt.
Die Abendsonne scheint mir mild ins Gesicht, als
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