Das Ziel ist der Weg
Waldboden waren Vorboten von Pilgergefährten. Heute Morgen in der Herberge sitzen zwei Pilgerinnen aus Deutschland am Frühstückstisch, Kaffeeduft zieht durch den Raum. Nach fast drei Wochen Einsamkeit eine Begegnung: Anita und Ingrid. Beide um die 50 Jahre alt, beide sehr herzlich und sympathisch. Sie werden mir noch Monate später schmunzelnd erzählen, dass ich erst nicht einmal gegrüßt hätte. »Habt ihr einen Fön, um die Schuhe zu trocknen?«, sei meine erste Frage gewesen — den Gruß habe ich später ausführlich nachgeholt.
Wieder Regen bis nach Lausanne, nicht ganz so stark. Wir gehen zwei Tage gemeinsam. Es ist schön, sich austauschen zu können. Die beiden haben in Rorschach am Bodensee begonnen und gehen den Jakobsweg in Etappen, jedes Jahr ein Stück. Ihr Pilgern fühlt sich anders an. In Lausanne in der Kathedrale trennen wir uns vor dem Torbogen, Ingrid und Anita sind dieses Jahr in Fribourg gestartet und wollen nach Le Puy. Aus Zeitgründen haben sie zwei kleine Abkürzungen vorgesehen. Sie nehmen ein Boot über den Genfer See, wie schon im Mittelalter manche Pilger. Schade. Ob ich sie wohl wiedersehen werde?
Der Himmel öffnet sich für einen Moment. Saint-Sulpice liegt schon einige Kilometer zurück, mein »Oculi mei« aus dem dunklen Kapelleninneren klingt mir noch in den Ohren. Der Pilgerführer schlägt vor, das Ufer des Genfer Sees wegen der Fernsicht auf die Alpen zu verlassen. Hinauf in die Weinberge. Schnell zieht der Himmel wieder zu, der Dauerregen setzt erneut ein. Nichts ist es mit der Fernsicht, wäre ich nur unten am See geblieben!
Es hört nicht auf zu regnen. Irgendwann fehlt mir jegliche Markierung, weil es derart schüttet. Ich habe die Orientierung in diesem regenverhangenen, grünen Labyrinth verloren. Um mich herum nur Wein, ein Rebstock am anderen. Am einfachsten ist es, auf den See zuzugehen. Das Wasser läuft kalt meinen Pilgerstab entlang über meine klammen Hände. Ein Trauerspiel, nur der Wille treibt mich vorwärts. Wenn ich nicht ungefähr nach einem Monat in Le Puy sein müsste, um meinen Zeitplan einigermaßen einzuhalten, würde ich mich am liebsten irgendwo eingraben und mit der Sonne wieder herauskommen.
Eine halbe Tagesetappe vor Genf hat Fortuna ein Einsehen in Form von Bernard und Claire: In strömendem Regen hält in Coppet plötzlich ein Auto neben mir am Wegesrand. Beide sind Jakobuspilger und haben mich an meinem Rucksack, der Muschel auf meinem Hut und meinem Pilgerstab erkannt. Sie laden mich über Nacht in ihr Haus ein. Wie gut es tut, mit Gleichgesinnten im Trockenen zu sitzen, die Wärme eines Ofens im Rücken, den Duft von Käse, frischem Brot und Rotwein in der Nase...
»Genf!« Ich stehe kopfschüttelnd vor der Kathedrale. »Genf!« Vor einem guten Jahr habe ich in der Nähe von Genf gearbeitet und bin von Stuttgart aus im Wochenrhythmus hin- und hergeflogen. In einer Stunde. Nun bin ich tatsächlich den ganzen Weg zu Fuß hierher gelaufen. Über Wochen. Es kommt mir unwirklich vor.
Spurwechsel
Von Genf nach Le Puy
»Erst wenn wir aus unserer Herkunft heraustreten,
können wir sie als solche erkennen und fühlen.«
Karl Otto Hondrich
Spurwechsel — die Spur zu wechseln meint beides: sowohl äußerlich aus dem modernen Alltag vollends in das Leben auf dem Pilgerweg überzutreten, als auch den innerlichen Spurwechsel, einen »Spürwechsel« zu vollziehen — einen unmittelbaren neuen Kontakt zu finden zur eigenen Gefühls- und Gedankenwelt.
Denn äußerlich benötigt der Körper die vier bis fünf Wochen Pilgerschaft, um sich auf die tägliche Kilometerleistung umzustellen: Die Muskeln der Beine und des Rückens, des ganzen Körpers stärken sich. Das Atemvolumen nimmt zu, der Kreislauf stabilisiert sich. Die ersten Umstellungsschmerzen sind überstanden, die Blasen an den Füßen abgeheilt. Eine tiefere, direkte Körpererfahrung stellt sich ein. Diese wird durch die nun selbstverständliche Bewegungsart der Pilger unterstützt: Ihr Schritt ist ein anderer als derjenige von marschierenden Soldaten oder von Musikern einer Marschkapelle. Nicht hart getaktet, sondern dem Untergrund angepasst. Er ist aber auch anders als der Schritt von Wanderern, weil jeder äußere Schritt auch ein innerer Schritt ist, der Spannungen auflöst. Pilgersein ist »nur eine Einstellung«. Diese unterscheidet sie von allen anderen Gehenden. »Der Weg wächst im Gehen unter deinen Füßen, wie durch ein Wunder«, schreibt Reinhold Schneider. Die
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