Das Ziel ist der Weg
Aufmerksamkeit für die Umwelt ist intensiver, detailreicher, farbiger geworden, Pilger fühlen sich in ihrer Außenwahrnehmung unmittelbar hineingenommen in den Kreislauf der Natur.
Nun wendet sich die Aufmerksamkeit nach innen. Pilger wechseln ihre Art, sich zu fühlen, sich zu spüren: Die bisher in Umrissen wahrgenommenen eigenen Gefühle füllen sich mit tiefen Empfindungen aus einem neu gewonnenen Kontakt zu sich selbst. Durch die Einsamkeit, das Eingebundensein in die Natur und die Erfahrung der Unerschöpflichkeit von Raum und Zeit werden Pilger notgedrungen mit sich selbst konfrontiert, nichts lenkt sie von außen ab. »Die zur Wahrheit wandern, wandern allein«, heißt es bei Christian Morgenstern. Sie wandern nach innen, zu ihrem eigenen verloren gegangenen Weg. Der erste Schritt zu diesem hin besteht darin, wieder auf sich selbst zuzugehen, sich selbst ohne äußere Einflüsse zu erfahren, Kontakt mit seiner Wesenstiefe, seiner Mitte zu knüpfen. Sinnsuchende Pilger wissen, dass sie diesen verloren gegangenen Bezug zu ihrem Wesenskern nur in sich selbst finden können. Der Mystiker Jakob Böhme schreibt: »Uns Menschen in dieser Welt ist daran am meisten gelegen, dass wir das Verlorene wieder suchen. So wir nun wollen suchen, so müssen wir nicht außer uns suchen.«
Mit dem Entschluss zum Aufbruch haben sich Pilger auf den Weg gemacht, um sich selbst zu finden. Sie wussten intuitiv, dass sie die Strukturen ihres bisherigen Lebens aufbrechen mussten, um sich näher zu kommen, um sich wandeln zu können. Sie mussten Wurzeln ausreißen, um zu neuer nährstoffreicher Erde zu gelangen. »Freund, so du etwas bist, so bleib nur ja nicht stehn, man muss aus einem Licht fort in das andre gehn«, heißt es bei Angelus Silesius im »Cherubinischen Wandersmann«. Der Ruf des Jakobswegs führt sie zu sich selbst. Wären sie ihm nicht gefolgt, wären sie sich ferngeblieben. Wären ferngeblieben dem Gespür für ihr Innerstes, ihren tiefen Gefühlen, ihren ganz eigenen Empfindungen und Bewertungen zu ihrem bisherigen Leben. Ohne diesen neuen Kontakt zu ihrer Gefühlswelt — nun unbeeinflusst von den Störsignalen aus den Erwartungshaltungen und Emotionslagen anderer — wären sie außerstande, ihren eigenen Weg zu erspüren. Sie suchen, wovon Hermann Hesse schreibt: »Es kommt nicht auf eine objektive, allgemeine Höhe der Leistung an, sondern eben darauf, dass der Mensch sein Wesen, das ihm Mitgeborene, so völlig und rein wie möglich in seinem Leben und Tun zur Darstellung bringe. Tausend Verführungen bringen uns beständig von diesem Wege ab, aber die stärkste aller Verführungen ist die, dass man im Grunde ein ganz andrer sein möchte, als man ist, dass man Vorbildern und Idealen folgt, die man nicht erreichen kann und die man auch gar nicht erreichen soll.«
Um sich wandeln zu können, ist für Pilger zuallererst der genannte »Spürwechsel« vonnöten, vorbereitet durch die Andersartigkeit des Pilgerlebens und die intensive neue Erfahrung der Außenwelt. Das bedeutet: die Wendung der Aufmerksamkeit zu sich selbst, der Kontakt zu dem, was die Pilger im Innersten ausmacht. Bernhard von Clairvaux schreibt: »Deine Besinnung muss bei dir selbst beginnen, damit du dir selbst nicht gleichgültig geworden, dich vergeblich anderen zuwendest. Was nützt es dir, wenn du die ganze Welt gewinnst und einzig dich verlierst? Denn wärest du weise, so würde es dir doch an Weisheit fehlen, solange du über dich selbst nicht Bescheid weißt. Wie viel dir wohl fehlte? Nach meinem Empfinden alles.«
Der Jakobsweg von Genf nach Le Puy-en-Velay führt die Pilger vor allem durch die Einsamkeit und Schönheit der Natur. Zuerst entlang und oberhalb der Rhône, dann in die subalpine Landschaft von Savoyen. Der Weg quert hinüber ins Isèretal und verläuft auf dessen rechter Talschulter, bis er wieder auf die Rhône trifft. Er führt über den Fluss, dann hinauf zur Tracol-Passhöhe und zieht sich weiter bis in das vulkanische Bergland um Le Puy.
Seit dem Mittelalter ist in Genf die Place du Bourg-de-Four unweit der Kathedrale Sammelplatz und Aufbruchstelle der Jakobuspilger. Wie ein Auge betrachtet die alte Jakobsmuschel an einer Hauswand seit Jahrhunderten die sich unter ihr einfindenden Pilger, die sich mit einem »Ultreïa!« auf den Jakobsweg Richtung Le Puy-en-Velay oder Arles machen. Von der Muschel aus verlassen die Pilger Genf und überqueren bald darauf die Grenze nach Frankreich, wo sie die Johanniter-Komturei
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