Das Zimmer
denn er ist ein wenig in Eile und möchte bald zum Forsthaus. Aber vorher noch durch den Wald. Rechts auf einem Zweig gleich ein Rotkehlchen. Sitzt da und mustert ihn und fliegt nicht weg. Schaut ihn einfach nur an, und er das Rotkehlchen. Beide scheinen sich zu kennen. Als gehörte nicht nur für meinen Onkel das Rotkehlchen zum Wald und zu diesem Tag ganz selbstverständlich dazu, sondern als gehörte auch für das Rotkehlchen mein eigener Onkel ganz fraglos in den Wald. Vielleicht hört es ihn. Vielleicht sagt mein Onkel etwas in der Sprache des Rotkehlchens. Nicht daß er die Sprache gelernt hätte, er kann sie einfach so. Er gibt vielleicht nur einen leisen Laut von sich, und das Rotkehlchen weiß genau, was er sagt, was er will, wie er sich befindet und wie es ihm gerade geht. Als er vorbeiläuft,beginnt es zu singen, und je mehr er sich entfernt, desto entfernter klingt das Rotkehlchen, und mein Onkel weiß, eigentlich klingt ein Rotkehlchen schon aus nächster Nähe immer so, als sei es entfernt. Und schon nach wenigen Metern klingt es wie ganz weit weg. Kein Vogel kann einsamer klingen als das Rotkehlchen. Mein Onkel sagt sich das nicht, nicht in Worten, aber nimmt es wahr. Er denkt, genau gesagt, überhaupt nicht über das Rotkehlchen nach, nur ich muß es jetzt tun, um dem Onkel eine Sprache zu geben, damit auch ich ihn verstehe, denn sonst wäre er gar nicht da und einfach tot und vergessen bis auf seinen Grabstein und die beiden Zahlen darauf. In Wahrheit ist alles wortlos in meinem Onkel. In Wahrheit spricht er eine ganz andere Sprache, eine vor den Worten, eine, die sowieso immer zwischen den Dingen ist, nur wir wissen sie meistens nicht, weil wir immer reden und daher zu laut sind für die Dinge. Jetzt, im Wald, ist mein Onkel dauernd im Gespräch mit allem, und dieses Gespräch ist für ihn wie Zuhausesein. Dort verstehen ihn alle, und er versteht den Wald, und nichts muß vorgespielt werden, und nichts wird geheimgehalten, und alles darf so sein, wie es ist. Da ist nichts Verborgenes, auch an ihm plötzlich nicht mehr. So geht er an den Eichen und Rotbuchen vorbei, hangauf, die Hände in den Manteltaschen und ohne zu rauchen. Im Wald wird nie geraucht. Es fällt ihm nicht ein, nie, das Rauchen.Rechts erscheinen jetzt die Skiwiesen, da tritt er aus dem Wald hinaus, weil er weiß, gleich kommen die zwei Hasen. Nun steht mein Onkel J. auf den Skiwiesen (damals war noch keiner auf den Gedanken gekommen, dort einen Golfplatz hinzubauen), und tatsächlich kommen nach nicht einmal einer halben Minute die zwei Feldhasen, laufen an ihm vorbei, schauen ihn an, kommen näher an ihn heran, beäugen ihn äußerst kritisch, wie es ihre Natur ist, und hoppeln dann die Wiese aufwärts. Er schaut ihnen lange nach, die Wiese schlägt hangaufwärts eine lange Schneise in den Wald, nun kommt der Bodennebel, nur ein leichter Schleier, und es wird gleich um ein, zwei Stufen dunkler, einzig das Laub scheint das Tageslicht noch in sich gefangen zu haben und leuchtet vor sich hin. Den ganzen Waldsaum entlang leuchten nun die unterschiedlichsten Farben. Und über die Waldwege senkt sich der Abend und bald schon die Nacht. Mein Onkel geht aufwärts bis zur Else-Ruh (Else, wie seine Großmutter), dann geht er noch weiter bis zur Augusten-Ruhe (Auguste, wie seine Mutter), nun ist J. im Frauenwald und läuft auch dort noch einen Bogen, vielleicht sieht er ein Reh, vielleicht einen Marder oder am Waldrand nächst den dort gelegenen Häusern ein Hermelin. Mein Onkel sah dort im Wald immer etwas, wo andere nichts sehen. Dagegen sah er unter den Menschen nie etwas, das sahen dann nur immer alle anderen.
Und während sich der Wald langsam in Dämmerung und Dunkelheit verschließt, kommt mein Onkel wieder aus ihm heraus, ein einsamer, kleiner Waldgänger, so sehe ich ihn zwischen den riesigen Bäumen, fast verloren im Bild, ein Mensch allein am Waldrand, allein unter dem Himmel, allein mit sich und doch vielleicht gerade in diesem Augenblick bei allem und mit allem verbunden und wie noch niemals von den Dingen geschieden und getrennt. Und unten steht das Automobil, da läuft er nun hin, und nun fährt er auch schon los, über den Johannisberg und hinüber zum Waldsportplatz, die erste Mannschaft trainiert. Hier kommen sie meist schon alle mit dem Auto.
Immer höher fährt mein Onkel in den Wald und wird dann von ihm freigegeben und ist nun unter offenem Himmel, fährt übers Land, vor ihm der Taunus, immer dunkler, daneben die
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