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Das Zimmer

Das Zimmer

Titel: Das Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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Vizepräsident einer berühmten Akademie. Jetzt hat er, fast vom heutigen Tag an gerechnet, noch dreizehn Jahre zu leben. Der Dichter der kosmischen Dichtungen steht im Jahr der Mondlandung in der Tür der Bindernagel’schen Buchhandlung inFriedberg in der Wetterau neben dem alten Dr. Herrmann und schaut auf den Verkehr, vielleicht fällt in der Tat an diesem Tag zum erstenmal den Friedbergern, die gerade auf der Kaiserstraße sind, der Verkehr auf. Plötzlich ist er da, der Verkehr, eben noch hatte es ihn nicht gegeben und kam er in der Welt eigentlich nicht vor für die Friedberger, er lag unter der Schwelle der Bemerkbarkeit, und nun plötzlich ist da etwas, und alle stehen einen Moment still und stumm da und schauen, auch der alte und der junge Herr Rausch aus der Schillerlinde treten gerade vor die Tür der Wirtschaft (drinnen sitzen sie beim Apfelwein und sind noch alle zu Fuß gekommen) und betrachten den Verkehr. Neben ihnen kommt im selben Moment Herr Schifbenger aus dem Café Schifbenger heraus, auch er anwesend in diesem historischen Augenblick, und sagt zum jungen Rausch: Erwin, was ist denn hier los, woher kommen denn auf einmal alle diese Automobile? Überhaupt treten gerade alle Einzelhändler und Geschäftsinhaber, aber vor allem auch alle Anwohner der Kaiserstraße vor ihre Türen oder an ihre Fenster und schauen auf den Verkehr und sagen sich, jetzt haben wir ja einen Verkehr, und eben war es noch bloß die leere, jahrhundertealte Kaiserstraße gewesen. Auch der Dunkelwirt tritt gerade vor seine Wirtschaft und schaut, unversehens beeindruckt, dieser Verkehrsanhäufung hinterher. Alle in Friedberg auf der Kaiserstraße sagen sich in diesem Moment, da ist ja etwas! Jetzt ist es da. Und geht vielleicht nie mehr weg. Das Verkehrsgeschehen dichtet noch im selben Augenblick dem Herrn Usinger eine oder mehrere Gedichtzeilen in den Kopf, er denkt an Worte wie Planetoide und Satelliten, Atomismus und Protonen. Herr Herrmann dagegen fragt sich in diesem Augenblick, wie es mit dem Handel auf der Kaiserstraße weitergehen soll, wenn hier plötzlich alle durchfahren, die bis vor kurzem noch höchstens zu Fuß oder mit dem Fahrrad und der Bahn unterwegs gewesen sind. Eben noch war da bloß eine Straße, und nun gibt es plötzlich und mit einemmal und an diesem Tag zum erstenmal gemeinschaftlich erkennbar für alle Beteiligten nicht nur die Straße, auf der sie verkehren, sondern auch den Verkehr. Was ist denn das hier überhaupt für ein Verkehr, fragt sich gerade auch meine Mutter im Variant, obgleich sie Volkswirtschaft studiert hat und es hätte wissen müssen, daß das Auto kommen würde überallhin in unser Land und alsdann als deutscher Export über die ganze Welt wie der Segen des Herrn in alle Ewigkeit und bis zum letzten Amen. Sie hat es aber nicht gewußt oder nicht wissen wollen, wie alle anderen es auch nicht gewußt haben, die staunend auf der Kaiserstraße stehen, als sei gerade die Mondrakete vor ihnen gelandet und als würden gleich die Männchen im weißen Raumanzug aussteigen und sie, die Wetterauer, durch ihre Spiegelglasvisiere anstarren. Und erstmals beginnt sich in ihren Köpfen kollektiv und unvermittelt und unabhängig voneinander aufgrund weniger, ganz allgemeiner logischer Schritte ein Gedanke festzusetzen, den im selben Augenblick alle Bewohner und der komplette Einzelhandel auf der Kaiserstraße in Friedberg in der Wetterau haben. Sowohl der alte Herr Dr. Herrmann denkt es, wie es auch der alte Herr Rausch denkt, auch Herr Lenhardt, der gerade stirnrunzelnd aus der zweiten Friedberger Buchhandlung, der Buchhandlung Scriba, heraustritt, denkt es, ebenso wie Herr Schifbenger und der Dunkelwirt und natürlich auch alle in ihren Automobilen, eingeschlossen meine Mutter auf dem Beifahrersitz des Variants meines Onkels J. Da müßte, denken sie plötzlich alle wie verabredet, doch etwas geschehen. Da müßte doch so etwas wie eine Ortsumgehung her. Und so erscheint erstmals gleichzeitig in allen Köpfen an diesem Tag das Wort Ortsumgehung . Wie die Wolken über sich im Wetterauer Blau sehen sie plötzlich das Wort vor sich, als stünde es am Himmel geschrieben. Alle taumeln einen Schritt zurück. Alle schauen wie auf ein Kommando, Hunderte die ganze Kaiserstraße entlang, plötzlich für einen Augenblick auf einen ganz bestimmten Punkt am Himmel, vielleicht dahin, wo sie gerade den lieben Gott vermuten, als habe er ihnen etwas enthüllt. Oder gar für einen Moment sich selbst. Ein

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