Das Zimmer
Johannisberg. Mein Onkel war neben mir der einzige Mensch in unserer Familie, der hin und wieder auf den Johannisberg ging, um von dort den Sonnenaufgang zu sehen. Zwar schleppen sich heutzutage die Bad Nauheimer in Silvesternächten scharenweise auf den Berg, um dort zu trinken und herumzustehen in ihren Skifahrerjacken, als seien sie auf der Skipiste, obgleich an Silvester nie Schnee vorhanden ist (aber es könnte ja schneien!), sie fahren mit ihren geländetauglichen Automobilen zuerst bis hinauf auf den Johannisberg, dann, wenn der obere Johannisberg bereits zugeparkt ist, fahren sie nur noch bis zur Hälfte und parken mitten auf der Waldstraße, schließlich fahren sie mit ihren Automobilen nur noch an den Fuß des Johannisbergs, weil man nur mehr dort parken kann, die letzten fahren wieder nach Hause, weil sie nirgends einen Parkplatz finden, dann fahren sie ihren Geländewagen (den sie gekauft haben, als müßten sie auch in der Wetterau durch Wüste und Moor) in die Garage und laufen zu Fuß zurück zum Johannisberg, den sie dann bereits nach fünf Minuten und sowiesonoch rechtzeitig vor null Uhr wieder erreicht haben, links das Kind an der Hand und rechts die große Tüte mit Knallmaterial und Schaumwein. Aber an einem gewöhnlichen Morgen bei einem gewöhnlichen Sonnenaufgang habe ich dort oben fast nie einen Nauheimer gesehen, und auch mein Vater hätte sich bedankt und gesagt, er habe andere Sorgen. In Lebensläufe wie die meines Vaters paßten Sonnenaufgänge höchstens dann hinein, wenn man frühmorgens um halb vier Uhr nach Italien in den Urlaub aufbrach, um den ersten Morgenstaus bei Frankfurt und dann wieder bei Nürnberg zuvorzukommen. Aber mein Onkel konnte, wenn die Sonne aufging, dort oben ebenso verharren wie ich, wir, die beiden Nichtsnutze in der Familie, er Schichtarbeiter, ich bloß verzweifelt und immer zu Fuß unterwegs zwischen Bad Nauheim und Friedberg in meiner Not.
Zuerst ist alles schwarz, dann kündigt sich eine schwarzblaue Aufhellung an, das dauert eine Weile. Später hat man den Eindruck, eigentlich werde es nun schon recht blau und hell, der Tag sei eigentlich bereits da, auch wenn es noch vor Sonnenaufgang ist, aber das täuscht, die Augen haben sich nur an die Dämmerung gewöhnt. Manchmal ist das Licht durch eine Wolkenbank begrenzt, der Rest ist dann ganz schwarz und das wenige Blau noch um so heller. Und dann, sehr schnell, kommt das Rot und fließt in alles hinein, in den ganzen vorderen Himmel, auf den manvom Johannisberg schaut, auf die ganze Landschaft, eigentlich auf die gesamte Wetterau, wie sie vor einem liegt. Und dann, als vibriere alles voller Erwartung, als zittere diese Morgenlandschaft, erscheint plötzlich die Sonne, und nun liegt die Wetterau golden und rot und immer noch schlafend da, und man selbst steht, sich die Hände reibend, in dieser Morgenkälte und hat vergessen, daß man nun schon seit über einer halben Stunde nur auf den einen Punkt starrt, an dem man die Sonne erwartet hat. Das ist der Sonnenaufgang vom Johannisberg aus, und dann gehen die ersten Lichter an, dann kommen die ersten Flugzeuge, dann kommt der Arbeitnehmer- und Angestelltenverkehr, und man selbst steigt hinab vom Johannisberg mit einem Sonnenaufgang am Himmel, den einem niemand mehr nehmen kann, für das ganze Leben nicht.
Nun aber, da J. unterwegs ist und die Julia bereits wieder vergessen, geht die Sonne gerade unter, und der Himmel rötet sich für den Abend. Überall Herbstlaub, es kommt meinem Onkel entgegen und färbt die Wege und Äste neben und über einem, so daß man wie durch einen Saal läuft, durch einen Herbstsaal. So hat er, das Automobil in der Augusta-Viktoria-Straße hinter sich lassend, den Wald betreten. Links eine Streuobstwiese, noch mit Äpfeln, keiner hat sie bislang gelesen, sie leuchten rot und wollen ihm etwas sagen, und er scheint es auchzu verstehen. Die Dinge redeten immer zu ihm, die Waldtiere und die Pflanzen, als gehörte er eher zu ihnen als zu uns, den Menschen. Die Äpfel, von was reden sie? Wie lautet ihre Sprache? Sprechen sie ihm von der Zeit, vom Jahr, und wie der Sommer war, und wie die Sonne jeden Apfel ganz persönlich anschien, als sei sie für ihn da und meine ihn? Nachher wird er im Forsthaus Winterstein reden können von den herrlichen Äpfeln, er wird auch sie superlativieren und zu den rötesten machen, die je auf dieser Wiese gehangen haben, zu den besten und reifsten und süßesten, obgleich er vielleicht nicht einmal einen kostet,
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