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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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elt, aber e s ist n i cht m eine.«
    »Ist es, weil sie fortgegangen ist? Weil sie S i e und Ihren  Vater verlassen hat ? «
    Sie wollte h e f tig e t was erwidern, aber dann gingen ihr m it ein e m Mal die W o rte aus, und sie konnte ihn nur m i t offen e m Mund anstarren.
    »Das ist es, nicht wahr? Sie haben ihr nie verziehen. Und  Sie haben nicht vor, jetzt noch da m it anzufangen.«
    »Ich glaube nicht, dass Sie das verstehen können. Zu An f ang war ich vielleic h t neidi s ch auf alles, was sie hatte, ihren Ruhm und das Geld und i h r Leben hier in Berlin. Aber irgendwann hat es m i ch nicht m ehr intere s sie r t . I c h
    war bei Vat e r in M e ißen, wir waren n i cht reich, a ber …«
    »Glücklich?«, fragte er zynisch.
    »Nein, nicht glücklich. Mein Vater i s t ni c ht m ehr glücklich gewesen, seit Jula fortgegangen ist. Er hat vorgegeben, nicht an sie zu denken, so als hätte er sie völlig aus s einer E rin n erung ge s t richen. Aber ich ha b e gesehen, wie sehr er gelitten hat. Und wie s e hr er sie ver m isst hat.«
    » W enn es u m gekehrt gewesen wäre … wenn Sie gegangen wären, nicht Jula, glauben Sie, er hätte dann genauso gelitten ? «
    Er ram m te s eine W orte in ihren wunden Punkt, und sie hasste sich und ihn und die W elt dafür. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Ich bin m i r nicht sicher.«
    »Und das ist das Schlim m ste, nicht wahr? Diese  Unsicherheit.«
    Sie drehte sich um und ging weiter. » W as wissen denn  Sie schon.«
    Er f olgte i h r schweige n d in die Diele. Ein Telefon m it einem Griff aus Elfenbein und orientalischen Intarsien hing an der Wand neben der Tür. »Als ich die Nachricht von Julas Tod bek a m, habe ich alle Schuldscheine verbrannt«, sagte er, während er nach dem Te l efonhörer griff und die Kurbel betätigte.
    » W aru m ? Welchen Vorteil hätten S i e davon, wenn ich in die Villa ziehe?«
    Er bestellte bei der Ver m ittlung einen W agen, der sie abholen sollte. Nachdem er eingehängt hatte, sah er sie wieder an.
    »Tun Sie mir den Gefallen, und schauen Sie sich das Haus wenigstens an.« Bevor sie widersprechen konnte, fügte er schnell hinzu: »Morgen Mittag, gegen zwei ? «
    Sie suchte nach einer Ausrede, nur kurz, dann gab sie auf.
    » W arum nicht«, sagte sie erschöpft.
    Aus seiner Tasche zog er einen Zettel, auf d e m er bereits die Adresse notiert hatte.
    Er hat es gewusst, dachte sie, und das ärgerte sie so sehr, dass sie es sich b einahe no c h ein m al anders überlegte. Dann aber steckte sie den Zettel ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. »Ich w a rte draußen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
    Zwischen J u las Standbildern trat s i e hinaus in di e Nacht. Für einen Augenblick glaubte sie, am Tor j e m anden durch die Dunkelheit huschen zu s e hen. In der Ferne knirschte Stahl, als sich einer der W aggonwü r m er durch die Finster n is w älzte.
    Masken trat zu ihr ins Fre i e und schlug die Ar m e vor den  Oberkörper. »Es ist kalt geworden.«
    »Ja«, sagte sie und blickte frö s telnd zu Julas steinernem  Antlitz e m por.
      
      
      
     
    Drei
     
    Sie sah Transvestiten, zum ersten Mal in ihrem Leben. Nicht einen oder eine Hand voll, sondern Dutzende, die sich bei Sonnenuntergang unter die Passanten ge m i scht hatten. Zwei Stunden später waren sie überall. Manche gingen allein, aber die m ei s ten schlenderten in Gruppen die Gehwege entlang. Kaum j e m a nd blickte sich nach ihnen um – nur Chiara. Mit großen Augen bestaunte sie die Männer in ihren schillernden Kostü m en, kam sich naiv vor, ein unerfahrenes Land m ädchen in der großen Stadt.
    Als der W agen sie vor ihrer Pension absetzte, kam ihr ein schwarz gekleideter Panto m i m e entgegen. Auf sein weißes Gesicht war das Zifferblatt einer Uhr g ezeich n et; die Zeiger zeigten kurz vor z w ölf. Er tänzelte stumm um Chiara h e r u m , betra c htete sie v on allen S eiten m it ausdruckslosen Augen und lief dann auf spindeldürren Beinen weiter. Als er sich noch ei n m al zu ihr u m schaute, war der große Zeiger auf Mitternacht vorgerückt.
    Ein Pulk im Gegenlicht der Auto m obilscheinwerfer drängte den Bürgersteig entl a ng, u m schloss Chiara wie ein Kiefer m it zu vielen Gelenken und spie sie wieder aus, als die Männer und Frauen weiterzogen. Der Hall ihres Gelächters s chien an Chiaras M antel kleben zu bleibe n , bis sie den E i ngang der P ension erreichte.
    Die Tür war abgeschlossen.
    Chiara blickte auf ihre Uhr. Zwanzig nach neun. Die

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