Das zweite Gesicht
einer anderen widerfahren, nicht ihr selbst.
Sie m usste sich zwingen, noch ein m al aufzus t ehen und sich auszuziehen. Gerade hat t e sie den Mantel beiseite gelegt, als sie den U m s chlag entdeckte, den je m and unter der Tür durchgeschoben hatte. Laut einer Notiz der Pensionsbe s itzerin war der Inhalt s chon am Nach m ittag von einem Jungen abgegeben worden. In d e m U m schlag steckte ein Zettel, einmal g e faltet und arg zerknittert, so als hätte ihn je m and in d e r Hosenta s che getrage n .
Pasen sie auf for Julas Erben, stand darauf, in der katastrophalsten Rechtschreibung, die ihr je unter die Augen gekommen war. Wenn sie m er wisen wolen komen sie morgen um achte zum Lumpazivagabundus in die Grenadiersträse.
Julas Erbe n ? Soweit sie wusste, war sie die ei n zige. Es gab keine a n deren Fa m ilien m itglieder, und der Notar hatte ihr erklä r t, ihr Na m e sei der ein z ige in Julas Testa m ent gewesen. Er war es auch gewesen, der ihr von Julas Schulden erzählt hatte; er w a rte n o ch auf das Eintreffen der Schuldscheine. Nun, falls Masken die W ahrheit gesagt hatte, gab es diese Schulden jetzt nicht m ehr.
Wer also war m it Julas E rben ge m eint? Und was sollte d i es e r Z e tt e l?
Sie hätte es als den ungeschickten Versuch eines Betrügers abgetan, etwas, wo m it sie halbwegs gerechnet hatte, denn Julas Bekann t heitsgrad m usste solc h es Gesindel früher oder später auf den Plan bringen. Verwirrend aber war die Tatsache, d ass derjeni g e wusste, wo sie abgestiegen war. Nur der Notar kannte den N a m en der Pension. Und Masken. Anderer s eits h a tte sie seit i h r e r Ankunft in Berlin keine besondere Vorsicht walten lassen. Viell e icht war ihr j e m and vom Büro des Notars aus gefolgt. Oder m an hatte sie auf der Straße erkannt, denn was im m er sie sagen m ochte, um sich von Jula zu distanzieren – die Ähnlichkeit zu i hr er Schwest e r ließ sich schwerlich verhehlen. Sogar in Meißen, wo die Leute sie kannten, hatte m an sie zwei- oder drei m al auf der Straße für Jula gehalten.
Morgen um acht in der Grenadierstraße. Aben d s, nahm sie an. Sie hätte verrückt sein m üssen, sich a u f eine so dubiose Einladung einzulassen. Hinter dem N a m en Lu m pazivagabundus schien sich ein Lokal zu verbergen; wahrscheinlich eher eine Spelunke. Sie wusste nicht, wo die Grenadierstraße lag, aber Handschrift und Rechtschreibung ließen keines w egs auf die beste U m gebung schließen. Am einfachsten wäre es gewesen, das Ganze zu ignorieren. Der S c hreiber drohte ihr nicht, verlangte kein Geld und tat auch sonst nichts Ungesetzliches. Aber er warnte sie.
War es m öglich … Herrgott, ein Kind! W as, wenn Jula ein Kind gehabt hatte, von d e m nie m and wusste? E i ne naheliegende Erklärung – aber unsinnig. Jula stand im Licht der Ö ffentlichkeit, und eine Schwanger s chaft wäre der Presse kaum verborgen geblieben.
Es war ein Bluff, darauf lief es hinaus. Sie hätte den Zettel gleich fortwerfen sollen, statt sich Gedanken darüber zu m achen.
Aber sie warf ihn nicht fort, sondern legte ihn auf einen kleinen Tisch a m anderen Ende des Zimmers, möglichst weit entfernt von ihrem Bett. S i e wusch sich die Hände ein wenig gründlicher als sonst und versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken.
Aber später, im Schein der Straßenlaterne vor ihrem Fenster, ertappte sie sich dabei, d ass sie im m er wieder zu dem Zettel hinüberblickte, ein f ahler Fleck in der Dunkelheit, als könnte sie i hn doch noch dazu bringen, sein Gehei m nis preiszugeben.
Sie fürchtete, dass s i e träu m en wü r de in d i eser Nacht: Noch einmal die Beerd i gung wie die Reprise eines Trauergesangs, m it Menschen, die durch eine schwarzweiße Friedhofskulisse schlafwandelten, aus groben Schraffuren und Tuscheschatten.
Stattdessen schlief sie tief und traumlos.
Am Morgen las sie d en Zettel erneut, fas s te sich ein Herz, ging zum nächsten Telefon und wählte die Nummer von Henriette Hegenbarth.
*
Die Straßenbahn quietschte um eine Kurve, Funken regneten von der Oberleitung. Mit einem Schnaufen ka m en die Wagen a m Fuß der Gedächtniskirche zum Stehen. Menschentrau b en for m ierten sich um die Türe n , die ersten Ungeduldigen drängten achtlos den Aussteigen d en entgegen.
Chiara schob sich durch die anbrandende Masse hinaus auf die Straße. Sie war Menschenmengen nicht gewohnt, die vielen S tim m en und Hände und Blicke verunsicherten sie. Sie m achte ein paar e i
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