Das zweite Gesicht
haben Sie je m als Poe gelese n ? Die Ausgaben aus dem G e org-Müller-Verlag ? «
»Das Sprechende Herz!«
»Das Schwatzende Herz. Zum Beispiel. Dann kennen Sie seine Zeichnungen. Kubin hat vieles von Poe illu s t r i e r t. Vor etwa e i n e m Jahr habe ich ihn en g agie r t, um Kulissen für eine Verfilmung von Poes Der Untergang des Hauses Usher zu entwerfen. Sagt Ihnen der Titel etwas ? «
Sie erinnerte sich vage, zuckte aber d i e Achseln.
»Nun, wir hatten vor, K ubins Illustrationen zum Leben zu erwecken. Die Schauspieler agieren sozusagen in seinen Zeichnungen. W as halten Sie davon ? «
Chiara m achte ein paar Schritte in den Raum hinein. Viele der ge m alten Kulissen wirkten unfertig, aber sie wollte Ma s ken nicht schon wieder vor den Kopf stoßen, deshalb sagte sie diplo m ati s ch: »I n t e ressa n t .«
»Vor allem kostspielig. Und eine zie m liche Enttäuschung.«
» W ieso?«
» W ir m ussten die Arbeiten schon nach wenigen Tagen abbrechen. Eine Laune Ihrer Schwester. Jula hat eine der
Hauptrollen gespielt – die Lady Madeline. Oder Magdalena, wie sie in der Müller-Übersetzung heißt. Aber wir hatten v or, uns in d en Zwisch e ntiteln an d as Origi n al zu halten. Im Fil m szenario h e ißt sie im m er nur Madeline.«
»Und ? «
»Jula hat die Sache hingesch m issen. Der Film entspräche nicht ihren Vorstellungen, hat sie am vierten oder fünften Drehtag erklärt und ist gegangen. Ohne sie zogen sich auf einen Schlag alle unsere Fina n ziers zurück. Kubin fuhr zurück nach Österreich, die Schauspieler nah m en andere Rollen an.«
W eh m ütig str e i f te sein Blick über die Kuliss e n. »Das war der tatsächliche U ntergang des Hauses U sher. W i r stehen g e ra d e m itten in d en Ruinen.«
Sie fand sein Pathos schwer erträglich, verkniff sich ab e r eine Be m erkung. Eine Menge Leute hatten an diesem Fi l m gearbeitet, hatten Hoffnungen, Mühe und Geld hineingesteckt – und Jula hatte alles zunichte ge m acht. In der Tat, darin war sie seit jeher eine Meisterin gewesen. Auch Chiara hatte ei n m al Träume gehabt, Wünsche, Erwartungen an ihr Leben, aber Jula hatte sie m it ihrem Verschwin d en zer s t ört. Es h a tte eine Zeit gegeben, da hatte sie gehofft, nach Dresden zu gehen, sich m it Kunst zu beschäftigen, vielleicht zu studieren. Vielleicht hätte es ihr schon gereicht, in einem der Museen zu arbeiten, Tag für Tag zw i schen den Kunstwerken ein und aus zu gehen. Doch dann, als Jula fortging und die Situation zu Hause sich grundlegend veränderte, war schlagartig ihr Interesse an der Malerei geschwunden, so als hätte J u la es in i h re Tasche gepackt und m itgenommen.
»Haben Sie es nic h t noch ein m al versucht ? «, fragte sie, auch um sich sel b st wieder auf andere Gedanken zu bringen.
»Mit einer anderen Schauspielerin?«
»Nein.« Er ging ein paar Schritte und blieb vor einem offenen Ka m i n stehen. Die Schatten waren grob gestrichelt, der Stein aus Papier. Und dennoch erschien es ihr wieder, als trete Masken dire k t in eine Szene hinein, wurde Teil einer Fiktion, die er selbst erschaffen hatte. Für je m and wie ihn, der von Geschichten lebte, m usste das der größte Triumph sein.
»Ich habe m it ein paar potenziellen Geldgebern gesprochen, aber alle haben abgewinkt. Ohne Jula war nie m and bereit, den F ilm zu finanzieren.«
»Aber Ihr R enommee …«
»Zum Teufel da m it! Ich neh m e an, Sie haben gehört, w as vo r d r e i Ja h ren p a s s i e r t i s t ? Be i d en D reh a r b e i t en zu Medusa ? «
Sie nickte langsa m . Jed e r hatte davon gehört, zu m al Jula die Hauptrolle gespielt hatte.
»Seitdem habe ich keinen Film m ehr ge m acht, wussten Sie das? Usher hätte m i ch reha b ilitiert. Für d i e Leute war die Sache g anz einfac h : W enn Jula bereit war, wieder m it m i r zu arbeiten, dann w ar es auch jeder andere. Eine Zeit lang sah alles großartig aus. Die Schauspieler rissen sich um die beiden m ännlichen Haup t rollen. W i r hätten sie alle haben können, Krauss und Jannings und Gott weiß wen … Bis unsere kleine Jula entschied, dass der Stoff für sie nicht gut genug sei. Wollen Sie die W ahrheit hören? Madeline hatte ihrer Meinung nach zu wenige Szenen. Das war es, was ihr nicht gef i el. S i e taucht am Anfang des Fil m s auf, und sie hat einen spektakulären Auftritt im Finale. Da zw ischen, ni c hts. W o ist m eine Liebesszene, hat sie gefra g t. Die Leute lieben m i ch nicht oh n e Liebessze n e. Dann ist sie
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