Das zweite Gesicht
lige S chritte fort von dem Gedränge, ehe sie stehen blieb und sich m it einem leisen Aufa t m en u m schaute. Die Fassade der Kirche ragte vor ihr in den Himmel, gegenüber lag ein Café m it lang gestrecktem W i ntergarten. Sie w ollte schon hinüber gehen, als sie den Schriftzug Regina an der Hauswand be m erkte. Hatte s i e di e Kolu m nistin f al s ch v erstan d e n ? Nein, bestimmt nicht. Gegenüber der Kirche, hatte sie gesagt. Chiara blickte nach rechts, und dort entdeckte sie ein zweites, noch größeres Lokal. Hinter ihr setzte sich die Bahn in Bewegung, Metall kreischte auf Metall, erneut sprühten F unken, und der Lärm wurde sekundenlang ohrenbetäubend.
Das Ro m anische Café befand sich im Erdgeschoss ei n es Gebäudes an der Ecke Tauen t zien- und Budapester Straße. Die Fassade des Hauses m it seinen zwei Tür m en und zahllosen Bogenfenstern w a r beeindruckend und so protzig wie offenbar alles in d i e s er Stadt. An d er Dre h t ü r herrschte stetes Kom m en und Gehen.
Chiara wechselte die Straß e nseite und trat ein. Einen Mo m ent lang war sie in der gläsernen Drehtür gefangen wie in einem Aquarium, der Lärm der Straße wurde du m pf, als wäre sie in Wasser getaucht. Auf der anderen Seite spie die Glaskabine sie in das A m b i ente eines p re uß i sc h en W ar t esa a l s. D er Po rtier in s e iner L oge nic k te ihr kurz zu, m achte aber kei n e Anstalten, ihr einen Tisch zuzuweisen. Schräg gegenüb e r vom Eingang stand ein großes, lieblos angerichtet e s Büffet, darüber hing ein wagenradgroßer Kronleuchter im M akartstil.
Chiara sah sich nach der Kolu m nistin um und nutzte die Gelegenheit, sich ein wen i g in dem berühmten Lokal u m zuschauen. Sie fand es durch und durch scheußlich und f ragte sich, was die Künstler, Autoren, Fil m - und Theaterleute, die im Ro m a nischen Café ein und aus gingen, hierher zog.
Rechterhand befand sich ein großer Raum m it Dutzenden von Tischen. Daran saßen im Dunst billi g er Fünfpfennigzigaretten Männer und Frauen, die m eisten in abgetragenen Mänteln, m anche gar m it Hüten, denn das Café war ungeheizt – zu m i ndest dieser Teil, der dem ge m einen Publikum vorbehalten war. An vielen Tischen beugten sich einzelne Gestalten m it demonstr a tiv e r Geschäftig k eit über Hefte und Skizzenblöcke, kratzten m it Feder und Bleistift über Papier und gaben vor, ganz versunken zu sein im Schaffensprozess. Tatsächlich aber blickte der ein oder andere im m er wieder über d i e Schulter, hielt Ausschau nach pro m inenten Gesichtern und buhlte um deren Auf m erksa m keit.
Diejenigen, die dergleichen nicht m ehr nötig hatten, trafen s i ch in einem zweit e n Raum des Caf é s, der sich links des Eingangs befand. Dort war die Z ahl der Tische geringer, im Augenblick waren nur wenige besetzt. E i ne geschwungene Treppe führte hinauf zu einer Galerie m it Spieltischen, von der ab und an ein »Schach!«, ein Freudenruf oder Fluch ertönte.
Henriette Hegenbarth saß an einem Tisch unweit der Treppe, hatte die kurzen, stäm m i g e n Beine übereinander geschlagen und rauchte einen Zigarillo. Vor ihr auf d e m Tisch t ü r m te sich ein Stapel Z eit u ngen. Als s i e Chiara entdec k te, s chlug s i e die ober s te A usgabe zu. Ihr Lächeln war das ei nz ig Ehrliche in m itten die s es Künstl e r z oos.
»Ich bin froh, dass Sie es sich anders überlegt haben«, sagte sie, nachdem sie bei Kellner N u m m er 16 für Chiara ein Kännchen Kaffee bestellt hatte. »Etwas zu essen? Berüchti g t sind die Eier im Glas, aber es gibt auch Besseres.«
Chiara schüttelte den Kopf. »Danke. Ich hab eben gefrühstückt.«
»Sie Glückliche. Ich weiß nicht, wann ich das letzte M a l zu Hause gefrühstückt habe.«
»Ich bin in Berlin nicht zu Hause.«
Henriette knibbelte nervös m it dem Zeigef i nger am Nagelbett ihres Dau m ens. »N ei n, natürlich nicht. Verzeihen Sie, wenn ich Sie so anstarre, aber I h re Ähnlichkeit m it Jula … verblüffend.«
» W ir haben eine Ab m a c hung. Erst stelle ich Ihnen m eine Fragen, dann reden wir über Jula. D a m it waren Sie a m Telefon einverstanden.«
»Sicher. Auf jeden Fall.« Die Kolumnistin zog an ihrem Zigarillo und blies den Rauch über die Schulter nach hinten, was bei ihr seltsam unecht aussah, so als hätte sie die affektierte Marotte bei e i ner anderen abgeschaut. Für eine der wichtig s t en Per s önlichkeiten des Berliner Gesellschaftslebens wirkte sie
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