Das zweite Gesicht
tiefer Morast.
»Du bist tot. Genau wie dei n e Schw e ster.« Seine Stim m e kippte ins H ysterische, d i e Sil b en stolperten übereinander. Er fluchte und brüllte Beschimpfungen. Das Kokain m achte ihn unvorsichtig, aber auch unberechenbar. Im Tau m el seines Höhenflugs war er gefährlich wie ein Raubtier.
Sie hörte seine polternden Schritte, hörte Maskens schwache Stim m e, die im m er noch versuchte, ihn zurückzurufen. Sie hielt den Revolver m it beiden Händen vor sich wie einen Schild, W a sser lief aus ihrem Haar in ihre Augen, sie bli n zelte, m usste eine Hand von der W affe lösen, um sich durchs Gesicht zu wischen. Im selben Mo m ent erschien Her m ann im Türrah m en.
Er stieß ei n en Schrei aus, der ein Lachen sein m ochte, und feuerte. Chiara sah im Schein des Mündungsblitzes sein Ge s i c h t, klitsch na ss wie ihr e s, das b l o n de Haar verklebt, die hellen Augen verkniffen.
Die Kugel ging m eterweit an ihr vorbei, Chiara stand längst n i cht m ehr in sei n er Schusslinie. Aber sie roch den Geruch des Schwarzpulvers, und ihr wurde davon übel wie von einem Schlag in die Magengrube. Sie fasste den Revolver wieder m it beiden Händen und drückte ab. Dann ein zweites Mal.
Der letzte S chuss traf ihn. Sie sah nicht, wo, sah nur, dass Her m ann nach hinten gerissen wurde, hinaus auf den Gang, und sie hörte das Geräusch, als er gegen die Täfelung prallte.
Kein tö d li c her T r e ff er, bestim m t nicht. Vielleicht die Schult e r. Viell e i c ht nur ein Ar m .
Her m ann lachte nicht m ehr und brüllte nicht m ehr. Statt d essen tat er e t was Selt s a m es: Er stieß si ch ab und stür m t e in die Kabine, an deren Seitenwand Chiara lehnte, aber er feuerte nicht, sondern schwang das Gewehr wie eine Ke u l e. Viell e icht wollte e r ihr e n Schädel u nter dem Kolben splitt e rn spüre n . Der Drogencocktail in seinen Adern verstärkte nicht nur seinen Tatendrang, sondern auch seine Emotionen: H ass, Zorn, S ch m erz.
Sie schoss erneut, als er fast heran w ar. Dies m al traf sie ihn in der Brust.
Der Einschlag riß ihn von den Füßen wie eine Strohpuppe, er krachte schepp e rnd m it d e m Rücken auf eine S t uhllehne, Holz zerbrac h , womöglich auch Knochen, dann prallte er auf den Bod e n, das Gewehr noch immer m it beiden Händen umklammert, so nutzlos wie ein Besenstiel.
Chiara stieß sich m it dem Rücken von der Wand ab, geschwächt, erschöpft und m it einem Gesch m ack i m Mund, als hätte sie rostige Eisenspäne verschluckt. Hatte er sie etwa doch getroffen, und s i e spürte die W unde nicht? Nein, sie hatte sich a u f die Unterlippe gebissen, so fest, dass sie bereits begann, anzuschwellen. Chiara spuckte aus und hielt die W a ffe auf He r m ann gerichtet, während sie sich ihm langsam näherte. W i eder musste sie den Revolver m it beiden Händen u m kl a m m e rn, so als zappele er zwischen ihren Fingern.
Her m an war nicht tot. Sein rec h tes Bein bewegte sich unablässig, streckte und beugte sich, eine bizarre
motorische Reaktion, die sie m ehr erschreckte als sein vorwur f svoller Blick. T atsäc h li c h, da war nur Vorwurf in seinen aufgerissenen A ugen, keines m ehr von diesen anderen G efühlen; viellei c ht noch ein Hauch von Erstaunen.
Seine Lippen bewegten sich.
Dann federte er hoch, als sei die Kugel von ihm abgepr a llt, ließ das G e wehr auf sie zu schn e llen, doch Chiara m a c hte einfach einen Schritt zur Seite und sah zu, wie er aber m als zusam m enbrach, dies m al auf die Seite. Das rec h te Bein hö r te au f , sich zu bewegen. Aber er at m ete, rasselnd wie eine W asserpu m pe. Seine Hände versuchten, das Gewehr zu d r ehen, es wieder a m Kolben zu fassen, den Finger vor den Abzug zu schieben.
Chiara tr a t ihm die W af f e aus den Fingern. Aber da m it ließ sie es nicht bewenden. Jetzt nicht m ehr.
Sie preßte die Mündung auf seine S chläfe. Seine Haut hatte die Farbe benutzter Seife, sie konnte seine Adern sehen.
Sie schloß die Augen. Zog den Abzug durch.
Der Pulver d a m p f stach beißend in ihre Nase. Ü belkeit zog sich wie ein Strick u m ihre Kehle zusam m en. Sie spie Galle und Blut aus, stolperte auf die Beine und blickte kein weiteres Mal auf den Leichnam am Boden.
Sie brac h te es nicht ü b er sich, das Gewehr aus seinen blutüberströ m ten Fingern zu lösen. Der Revolver m ußte reichen.
Sie hatte m itgezä h lt. F ü nf Schüsse, bisher. Ei n e Kug e l übrig.
*
Der Junge
Weitere Kostenlose Bücher