Das zweite Gesicht
würden.«
Chiara brachte kein Wort heraus. Ihre Gedanken überschlugen sich.
»Keine Sorge, nur die Lungenpest ist durch die Luft übertragbar. Was ich habe ist die klassische und … weniger attraktive Variante – die Beulenpest.« Julas heiseres Lachen wiederholte sich, gefolgt von einigen hastigen Atemstößen. »Es fängt an mit einem Flohstich. Die Einstichstelle färbt sich nach ein paar Tagen schwarz. Dann schwellen die Lymphknoten, manche brechen auf und eitern. Eine Woche später glaubst du, es ist so weit – Fieber und Kopfschmerzen bringen dich fast um den Verstand, du kriegst keine Luft mehr und glaubst, dass der Tod das Beste ist, was dir passieren kann. Manche sterben währenddessen an einer Blutvergiftung, andere überleben noch eine Weile. Die Schmerzen lassen nach, man beginnt, wieder klarer zu denken – wenigstens zeitweise. Die Pusteln und Schwellungen bleiben, unter deiner Haut verteilt sich schwarzes Blut wie Tinte, deine Verdauung spielt verrückt. Manchmal hast du Halluzinationen – dann glaubst du, du schaffst es. Dieser Zustand kann ein paar Tage dauern, manchmal auch viele Wochen. Bei mir geht das jetzt seit fast drei Monaten so. Trotzdem kann es jederzeit vorbei sein. Delirium, Koma – aus. Aber ich habe es bis hierher geschafft, und ich würde mich sehr wundern, wenn ich aus dieser Sache nicht doch noch heil herauskäme.«
»Bist du deshalb nach Berlin gekommen? Wegen der Spuren des Avatars?«
»Wenn es nur seine Spuren wären, hätte ich in Indien bleiben können. Der Junge ist der Avatar, weißt du.« Ihre Überzeugung hatte offenbar nicht gelitten, ganz gleich, was sie durchgemacht hatte. »Aber das genügt nicht. Er hat diese sieben Orte damals aufgespürt, als ich ihn mit hierher gebracht habe. Er hat sie nicht hinterlassen, wie Masken glaubt – er hat sie gefunden. Sie waren immer hier, lange bevor die Stadt existierte. Vielleicht gibt es noch andere Orte wie sie, anderswo auf der Welt. Aber wo?« Sie verstummte für einen Moment.
»Es ist das Fieber. Es geht nie ganz zurück. Ich habe das Gefühl, dass ich dich sehen kann, trotz der Dunkelheit.« Irgendwo in Chiara regte sich die Frage, wer das Licht ausgeschaltet hatte. Aber Julas Redeschwall überlagerte den Gedanken.
»Die W i edergeburt rei n igt nic h t n u r deinen V erstan d . Sie heilt auch deinen Körper. Es bleiben Narben, vielleicht, aber danach bist du gesund und … rein.« Stoff raschelte. »Ich m uss es einfach versuchen.«
» W as ist m it Jako b ?«
»Er ist vor einiger Zeit in Ind i en au f getauc h t. Er hat m i r von dir erzählt, von dem Unfall, den Masken inszeniert hat. W usstest du, dass Jakob dabei f ast u m gekommen ist? Masken hat das in Kauf genommen. Jakob ist aus dem Wagen geschleudert worden und war verletzt, aber er ist geflohen, weil ihm klar wurde, dass er zu viel w usste u n d Masken ihn nicht m ehr brauchte. Er hat es versucht, Chiara … er war der Erste, den ich kenne, der es versucht hat.«
» W as versucht ? «
»Die W i edergeburt zu wiederholen. Der Mann, d e m du oben im Salon begegnet bist, ist nicht derselbe wie der, den du gekannt hast … nicht wirklich derselbe. Er hat einen Arzt gefunden, der die O p eration ein zweites Mal an ihm vorgenom m en hat – in Zeiten wie diesen f i ndest du Ärzte, die dir beide Arme und Beine a m putieren, wenn du ihnen nur genug dafür zahl s t.« Sie klang ein wenig ate m los. »Er hat die sieben O r te passiert, und es ging alles gut. Er wurde in seinem neuen Körper wiedergeboren und hat den alten … verschwinden lassen.«
»Er hat ihn er m ordet.«
»Ist das unmoralischer als Selbstmord ? « Jula hustete hart.
» W ie auch immer … Man zahlt eben einen Preis für … alles. Du weißt, dass m an sich verändert. Egoismus, nennt Masken da s, die s er Narr. In W ahrheit hat er n i chts verstanden. Und es scheint s t ä rker zu werden, m it jeder W i edergeburt. Du hast Jakob erlebt. Er ist nicht m ehr der Alte.«
»Er ist v err ü ckt.«
»Nicht verrückt. Er ist sk r upellos. Zielgerichtet, könnte m an auch sagen.«
»Er hat Spaß daran, Masken zu foltern.«
»Hat Masken das nicht verdient? N ach de m , was er d i r angetan hat? Die ganze Zeit über, seit Jakobs Ankunft in Indien, war ich nicht sicher – aber er hat m i r heute Morgen die Zeitung gezei g t . Die Schlagzeile über dein Auftauchen bei der Pre m iere. Da wusste ich, dass es zwei von dir gibt. Du bist jetzt eine von uns, Chiara.«
Chiaras erster I m puls war
Weitere Kostenlose Bücher