Daughter of Smoke and Bone
Geruch nach Kräutern und Schwefel, und zwischen den Säulen waberten Rauchschwaden, hier und da zerfasert von einem Windhauch, der durch unsichtbare Ritzen in den behauenen Wänden hereinwehte.
Brimstone und Twiga durchschritten das lange Schiff der Kathedrale. An den Seiten des Mittelgangs standen keine Bänke, auf denen Gläubige ihre Gebete verrichten konnten, sondern Tische – Steintische, riesig wie Menhire, so riesig, dass man Elefanten gebraucht haben musste, um sie hierherzuschleppen. Sie waren auch groß genug, dass ein ausgewachsener Elefant darauf Platz gehabt hätte … und auf einem davon lag
tatsächlich
einer.
Ein Elefant, aufgebahrt auf einem der Tische.
Oder … nein. Es war kein Elefant. Mit Klauen an den Füßen, dem massigen Kopf eines Grizzlybären und Stoßzähnen war die Kreatur eindeutig andersartig: eine Chimäre.
Und sie war tot.
Bei genauem Hinsehen merkte Karou, dass auf allen Tischen tote Chimären lagen, Dutzende. Unstet huschte Karous Blick von einem Tisch zum nächsten. Es gab keine zwei Kreaturen, die sich auch nur annähernd ähnlich sahen. Die meisten hatten irgendeinen menschlichen Teil, Kopf oder Oberkörper, aber nicht alle. Ein Affe mit der Mähne eines Löwen, ein riesiger Leguan, den man fast als Drachen bezeichnen konnte, der Kopf eines Jaguars auf dem nackten Körper einer Frau.
Brimstone und Twiga bewegten sich durch die Reihen, berührten die Kreaturen, untersuchten sie. Am längsten blieben sie bei einem Mann stehen.
Auch er war nackt. Er war das, was Zuzana und Karou mit dem selbstgefälligen Lächeln eines wahren Kenners als »Prachtexemplar« bezeichnet hätten. Breite Schultern, die sich zu schlanken Hüften verjüngten, Waschbrettbauch, alle Muskeln, die Karou aus jahrelanger Zeichenerfahrung kannte, kräftig ausgeprägt. Sein mächtiger Brustkorb war von weißem Flaum überzogen, und auch die langen, seidigen Haare auf seinem Kopf waren weiß.
Über seinem Kopf hing eine Art antike silberne Lampe, aus der dichte Schwaden von Weihrauch drangen und ihn einhüllten.
Ein Turibulum
, dachte Karou – eins dieser Gefäße, die katholische Priester bei der Messe schwenkten. Brimstone legte eine Hand auf die Brust des Toten und ließ sie einen Augenblick dort ruhen. Karou konnte die Geste nicht einordnen. War sie zärtlich? Oder traurig? Als er und Twiga weitergingen und in den Schatten am anderen Ende des Kirchenschiffs verschwanden, verließ sie ihr Versteck und schlich zu dem Tisch hinüber.
Aus der Nähe sah sie, dass die weißen Haare des Mannes nichts mit seinem Alter zu tun hatten. Er war jung, seine Züge faltenlos. Er war sehr schön, auch wenn sein Gesicht im Tod ausdruckslos, wächsern und nicht richtig echt wirkte.
Er war nicht vollständig menschlich, aber menschlicher als die meisten Chimären hier. Auf halber Höhe gingen die Oberschenkel in weiß bepelzte Wolfskeulen über, und er hatte auch die langen, leicht nach hinten geneigten Tatzen und die schwarzen Krallen eines Wolfes. Seine Hände waren ebenfalls eine Mischform aus Mensch und Tier: der Handrücken breit und pelzig wie Tatzen, mit menschlichen Fingern, die in Klauen übergingen. Sie lagen mit den Handflächen nach oben, als wären sie so arrangiert worden, und so konnte Karou sehen, was dort in die Haut eintätowiert war.
In beiden Handflächen prangte ein schwarzes Auge – wie in ihren eigenen.
Erschrocken wich sie einen Schritt zurück.
Das hatte etwas zu bedeuten! Etwas Wichtiges, etwas
Zentrales
. Aber was? Sie wandte sich dem nächsten Tisch zu, der Kreatur mit der Löwenmähne. Sie hatte die schwarzen Hände eines Affen, aber trotzdem konnte Karou die Hamsas darauf ausmachen.
Langsam ging sie von einem Tisch zum anderen. Sogar die Sohlen der gigantischen Vorderfüße der Elefantenkreatur waren gekennzeichnet. Jede dieser toten Kreaturen trug die Hamsas, genau wie sie. Ihre Gedanken hämmerten in ihrem Kopf wie ihr Herz in ihrer Brust. Was ging hier vor sich? Hier in dieser unterirdischen Kathedrale lagen Dutzende Chimären, nackt und tot – ohne sichtbare Wunden – auf kaltem Stein aufgebahrt. Auf irgendeine Art war sie durch ihre eigenen Hamsas mit ihnen verbunden, aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie.
Schließlich kehrte sie zu dem ersten Tisch zurück, auf dem der weißhaarige Mann lag, und lehnte sich dagegen. Plötzlich wurde sie sich des Weihrauchgeruchs bewusst, und ein Anflug von Panik überkam sie, als ihr klarwurde, dass er sich in ihren Haaren
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