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Die Entstehung des Doktor Faustus

Die Entstehung des Doktor Faustus

Titel: Die Entstehung des Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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I
    Tagebuch-Notizen von 1945 zeigen mir, daß am 22. Dezember dieses Jahres der Korrespondent von »Time Magazine« in Los Angeles mich besuchte (es ist eine Stunde Wagenfahrt von Down-town bis zu unserem Landhause), um mich zur Rede zu stellen wegen einer Prophezeiung, die ich vor anderthalb Jahrzehnten getan, und die in Erfüllung zu gehen säumte. Am Schluß eines damals verfaßten, auch ins Englische übersetzten
Lebensabrisses
hatte ich im halb spielerischen Glauben an gewisse Symmetrien und Zahlenentsprechungen in meinem Leben die ziemlich bestimmte Vermutung geäußert, daß ich im Jahre 1945, siebzigjährig, im selben Alter also wie meine Mutter, das Zeitliche segnen würde. Das ins Auge gefaßte Jahr, sagte der {410} Mann, sei so gut wie abgelaufen, ohne daß ich Wort gehalten hätte. Wie ich es vor der Öffentlichkeit rechtfertigen wolle, daß ich immer noch am Leben sei.
    Was ich erwiderte, wollte meiner Frau nicht gefallen, umso weniger, als ihr sorgsames Herz seit längerem schon um meine Gesundheit bangte. Sie suchte, mich zu unterbrechen, zu protestieren, Erklärungen nicht gelten zu lassen, die ich mir von einem Interviewer entlocken ließ, während ich sie bis jetzt damit verschont hatte. Mit dem In-Erfüllung-gehen von Prophezeiungen, sagte ich, sei es ein eigenes Ding; sie bewahrheiteten sich oft nicht wortwörtlich, sondern auf eine andeutende Weise, die etwas von ungenauer und bestreitbarer, doch aber unverkennbarer Erfüllung habe. Es gebe da Substitute. Gewiß, meine Ordnungsliebe habe nicht ausgereicht, meinen Tod herbeizuführen. Aber wie der Besucher mich da sehe, sei immerhin in dem Jahr, das ich dafür angesetzt, mein Leben – biologisch genommen – auf einen Tiefpunkt gekommen, wie es ihn noch nicht gekannt habe. Ich hoffte, daß es aus dieser Depression mit meinen vitalen Kräften noch wieder aufwärts gehen werde, aber als Bewährung meines Sehertums genüge mein gegenwärtiger Zustand mir vollkommen, und es sollte mir lieb sein, wenn er und sein sehr geschätztes Blatt sich auch daran genügen ließen.
    Als ich so sprach, waren es nur drei Monate noch bis zu dem Augenblick, wo das biologische Tief, auf das ich mich berufen, seinen äußersten Punkt erreichte, eine ernste, zum chirurgischen Eingriff zwingende Krankheitskrisis alles Gewohnte für Monate unterbrach und meine Natur auf eine späte, in dieser Form keineswegs erwartete Bewährungsprobe stellte. Ich erwähne dies aber, weil eine merkwürdige Divergenz zwischen biologischer und geistiger Lebenskraft mir daraus hervorzugehen scheint. Durchaus nicht müssen die Zeiten körperlicher {411} Wohlfahrt und gesundheitlichen Hochstandes, Zeiten der physischen Ungestörtheit und des festen Schrittes auch die produktiv gesegneten sein. Die besten Kapitel von
Lotte in Weimar
habe ich unter den, Unerfahrenen nicht zu beschreibenden, Qualen einer wohl über ein halbes Jahr sich hinziehenden infektiösen Ischias geschrieben, den tollsten Schmerzen, die ich je ausgestanden, und denen zu entgehen man Tag und Nacht vergebens nach der rechten Position sucht. Sie existiert nicht. Nach Nächten, vor deren Wiederholung mich Gott bewahre, pflegte das Frühstück eine gewisse Besänftigung des in Entzündungsgluten stehenden Nerven zu bringen, und in irgendeiner schräg angepaßten Sitzmanier an meinem Schreibtisch vollzog ich danach die Unio mystica mit Ihm, dem »Stern der schönsten Höhe«. Immerhin ist die Ischias keine sehr tief ins Leben reichende und bei aller Tortur nicht recht ernst zu nehmende Krankheit. Die Zeit dagegen, von der ich spreche, und für die ich meinen Tod prophezeit hatte, war eine Periode wirklichen, langsam fortschreitenden Niederganges meiner Lebenskräfte, einer unverkennbaren biologischen »Abnahme«. Gerade mit ihr aber ist die Entstehung eines Werkes verbunden, das vom Augenblick seines Erscheinens an eine eigentümliche Ausstrahlungskraft bewährt hat.
    Es wäre doktrinär, in der vitalen Minderung Ursache und Bedingung einer Hervorbringung sehen zu wollen, die den Stoff eines ganzen Lebens in sich aufnahm, ein ganzes Leben, halb ungewollt, halb in bewußter Anstrengung, synthetisiert und zur Einheit zusammenrafft und darum kaum umhinkann, eine gewisse Lebensgeladenheit zu bewähren. Leicht ist die Kausalität umzukehren und meine Erkrankung dem Werk zur Last zu legen, das wie kein anderes an mir gezehrt und meine innersten Kräfte in Anspruch genommen hat. Wohlwollende Beobachter meines Lebens haben das

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